Im Kapitel „Die im Dunkeln sieht man nicht“ (Zitat von Bertolt Brecht) geht es um die Arbeitswelt im engsten Sinne. Paul Schobel kritisiert nicht nur die zunehmende Arbeitsverdichtung, sondern fragt auch danach, warum der Einzelne sich so vereinnahmen lässt und im Extremfall zum Arbeitssüchtigen wird bis zum Burnout: Der Erwerbsarbeit wird alles untergeordnet! Oder er beschreibt das stressige Leben eines Fernfahrers, einer Kassiererin an der Ladenkasse oder Nachtarbeitern bei Polizei, Rettungsdiensten oder Pflege und eröffnet Möglichkeiten für ein besseres Verständnis für diese Arbeitnehmergruppen. Genauso fordert er einen besseren Umgang mit Gehandikapten in der Arbeitswelt ein. Geradezu zornig wirken seine Betrachtungen zu den Niedrig- bzw. Billiglöhnern.
Das zweite Kapitel widmet sich eher dem kapitalistischen Wirtschaftssystem: „Diese Wirtschaft tötet“ (Zitat von Papst Franziskus). Hier seziert Schobel gekonnt die Unzulänglichkeiten der Marktwirtschaft, die eben höchstens für Marktgerechtigkeit sorgen könne, nicht aber für soziale Gerechtigkeit. Auch die Abgründe des Kapitalismus, die schier unendliche Gier, die Ausbeutung von Mensch und Natur sowie der maßlose Konsum kommen zur Sprache. Dabei werden nicht nur Bibelstelen zitiert wie „macht das Haus meines Vaters nicht zur Markthalle und zu einer Räuberhöhle“ (Johannes 2, 13-16) im Beitrag zur Finanzkrise, sondern auch große Denker wie Mahatma Gandhi: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse aber nicht für jedermanns Gier.“ Unwillkürlich denkt man dann an den amerikanischen Präsidenten Donald Trump, an unanständige Bonuszahlungen für Manager oder Banker oder – auf der ganz anderen Seite – an die neue Jugendbewegung „Fridays for Future“ und ihre Begründerin Greta Thunberg, die allen Erwachsenen den Spiegel vorhält: Eure Wirtschaft und euer Verhalten töten den Globus!
Unter der Überschrift „Unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Gewand“ (Jesaja 64,5) beleuchtet Schobel die Widersprüchlichkeiten unserer Gesellschaft: soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Solidarität als Lippenbekenntnisse! Schobel widmet sich Themen wie Altersarmut, die Lage auf dem Wohnungsmarkt bis hin zur Stromabschaltung, dem kranken Gesundheitssystem, und der Bedeutung der Tafelläden – für die Betroffenen ein „Erfolgsmodell“ aber „für eine reiche Gesellschaft ein Armutszeugnis.“ Dazwischen ein auffordernder Text: „Mit der Bergpredigt Politik machen!“
In der zweiten Hälfte des Buches wird es eher seelsorgerlich und auch politisch-theologisch. Es geht um die Rolle der Kirche in der Gesellschaft, um Missstände und Fehlverhalten (Gewalt gegen Kinder, Streit in Familien, Umgang mit Flüchtlingen), aber auch um Texte zu Ereignissen im Kirchenjahr und um Liebe und Nächstenliebe. Vor und hinter der eigenen Haustüre achtsam und liebend miteinander umgehen, könnte das Resultat aus dem Kapitel „Das Leben lieben und die Liebe leben“ lauten.
Die Überschrift des 5. Kapitels sagt schon (fast) alles: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“ (Zitat von Bischof Jacques Gaillot). Schobel setzt sich mit den „guten Hirten“ auseinander, aber auch mit dem Missbrauch in der Katholischen Kirche und fordert seine Kirche auf, sich viel mehr für Frauen, Arme und Pflegende einzusetzen
Als Überschrift zum abschließenden Kapitel wählt Schobel ein Zitat von Ernesto Cardenal: „Wir sind noch nicht im Festsaal angelangt, aber wir sehen schon die Lichter und hören die Musik.“ Texte zu Tod und Auferstehung, zu Karfreitag, Allerseelen und Ostern. Mit Ostern verbindet Schobel Hoffnung: „auf dem Leitstrahl der Liebe durch alle Turbulenzen hindurch bei Gott ankommen.“ Doch vorher, zu Beginn des 6. Kapitels stellt der Autor die provokante Frage: Sind Christen Revolutionäre? Sie sollten es sein, sich für das Leben einsetzen und die (Nächsten-)liebe! Quasi als Zeuge zitiert er aus dem Tagebuch des Studentenführers Rudi Dutschke, der in einer evangelischen Gemeinde aufgewachsen ist: Nähmen die Menschen die von Jesus vorgelebte Liebe voll an, „dann könnte die Wirklichkeit des Wahnsinns nicht mehr weiterbestehen.“
Das kurzweilige, gut in kleinen Etappen zu lesende Buch wird durch ein Interview mit dem Autor abgerundet. Darin zu finden auch ein Kernsatz Schobels: „Das Reich Gottes beginnt hier und heute und fordert gerechte Strukturen und geschwisterlichen Umgang miteinander. Wir haben Sorge zu tragen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung.“ Dies kann auch als Credo des inzwischen 80jährigen Seelsorgers betrachtet werden, für den das vermeintliche Schimpfwort „Herz-Jesu-Sozialist“ ein Ehrentitel ist.
Michael Bauer
Paul Schobel
Gerecht geht anders - Anstöße für eine humane Arbeitswelt und eine geschwisterliche Gesellschaft
Schwabenverlag (Ostfildern) 2019
144 Seiten, 16 €