„Fragt uns, wir sind die letzten! – Erinnern für die Gegenwart“

Sechs polnische Zeitzeugen im Kloster Jakobsberg/ Veranstaltung mit Weihbischof in Bingen-Büdesheim

Gruppenfoto mit Zeitzeugen (c) Stephan Dinges
Gruppenfoto mit Zeitzeugen
Datum:
Mo. 27. Mai 2019
Von:
Katja Steiner, Alois Bauer

Die Leinwand im Evangelischen Gemeindehaus in Bingen-Büdesheim zeigt Statistiken, Tabellen, Listen. In präziser bürokratischer Sprache werden Transporte dokumentiert. Was aussieht wie eine beliebige Lieferliste für Waren, sind Dokumente der Unmenschlichkeit. Sie erzählen vom Schicksal polnischer Familien im von den Deutschen besetzten Polen während des 2. Weltkrieges.

Zeitzeugin Józefa Posch-Kotyrba spricht im Evangelischen Gemeindehaus in Bingen-Büdesheim (c) Hermann-Josef Gundlach
Zeitzeugin Józefa Posch-Kotyrba spricht im Evangelischen Gemeindehaus in Bingen-Büdesheim

Józefa Posch-Kotyrba, 1938 im polnischen Jaworzo nahe Kattowitz  geboren, schildert ruhig und sachlich das Schicksal ihrer Großfamilie. Manchmal ist aber zu spüren, wie sehr sie ihre Emotionen unter Kontrolle halten muss, vor allem, als sie von der letzten Begegnung mit ihrer Mutter erzählt. Am 17. Februar 1943 wurde die gesamte Familie von der Gestapo verhaftet, die Kinder wurden von der Mutter getrennt und in verschiedenen Lagern interniert. Die Mutter kam im KZ Auschwitz ums Leben, der Vater wurde als Untergrundkämpfer von der Gestapo in Myslowice erschossen.

Posch-Kotyrba zeigt Familienfotos und Dokumente, sie schildert detailliert die Vorgeschichte ihrer Verhaftung. Die deutschen Deportationszüge mit Häftlingen nach Auschwitz rollten am Heimatort von Józefa Posch-Kotyrba vorbei, der an der Bahnlinie Kattowitz-Krakau lag. Um diese Transporte zu verhindern, unternahmen polnische Untergrundkämpfer aus der Region Sabotageakte. Der Vater, Angestellter bei der Bahn, und zwei Onkel beteiligten sich an diesen Widerstandsaktionen.

 

Józefa wurde zunächst in den Gefängnissen von Katowice und Myslowice interniert, von dort kamen die Kinder in die sog. Polenlager Pogrzebien, Bogumien, Kietr zund schließlich in das Internierungs- und Arbeitslager Lebrechtsdorf-Potulitz in Nord-Polen, wo sie bis zur Befreiung am 21. Januar 1945 inhaftiert waren.

Józefa war zu klein für eine Arbeit außerhalb des Lagers. Sie musste mit anderen kleinen Kindern die Baracken putzen und das Lagergelände in Ordnung halten. Alle Geschwister haben überlebt, weil sie zusammen bleiben und sich so gegenseitig unterstützen konnten. Nach der Befreiung fuhren sie mit dem zweiten Transport nach Będzin. Dort kamen sie in einem Krankenhaus unter. Über die Zeitung hatte ihre Großmutter erfahren, wo ihre Enkelkinder sind. Sie organisierte ihre Abholung und nahm die Kinder zu sich.

Nach dem Krieg besuchte Józefa die Grundschule. Dann kam sie in ein staatliches Internat für jugendliche Waisen in Krzeszowice bei Krakau, wo sie ihr Abitur machte. Anschließend studierte sie an der Pädagogischen Hochschule in Krakau und arbeitete danach 30 Jahre als Mathematiklehrerin in ihrer Heimatstadt Jaworzno.

Mehr als  70 Zuhörende im Saal der Ev. Christuskirchen-Gemeinde Bingen-Büdesheim waren spürbar betroffen von diesem Schicksal.
Sehr berührt zeigte sich auch Weihbischof Dr. Udo M. Bentz aus Mainz, der eigens angereist war, um den Vortrag von Frau Posch-Kotyrba zu verfolgen und den Besuch der Zeitzeugen zu würdigen. Er unterstrich in einem persönlichen Schlusswort zwei Aspekte:

  • Ihn erschüttere die bürokratische Perfidie eines unmenschlichen Systems, die sich in den gezeigten Dokumenten niederschlug. So etwa in einer penibel und in akkurater Schreibmaschinenschrift angelegten Liste der „Volksdeutschen Mittelstelle“ mit dem Titel „Zugang: Kinder-Transporte“ zeigte, dass Menschen wie eine Ware behandelt und abgestempelt wurden.
  • Er frage sich, so der Weihbischof, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen dem allmählichen Wegsterben der letzten Zeitzeugen, die noch über die NS-Zeit berichten können, und dem Aufkommen populistischer, rassistischer Strömungen. Er denke, ja. Offenbar benötige eine Gesellschaft die lebendige Brücke der Erinnerung über Generationen hinweg. So appellierte er an alle im Saal, als „Zeugen der Zeitzeugen“ diese Erinnerung wachzuhalten und weiterzutragen.

 

 

Zu Beginn hatte Pfarrerin Tanja Brinkhaus-Bauer die Gäste und die Kooperationspartner begrüßt. Mitgetragen wurde die Veranstaltung vom Arbeitskreis AK Jüdisches Bingen, dem BDKJ im Bistum Mainz, der Ev. Christuskirchengemeinde, dem Kath. Dekanat Bingen und dem Kath. Bildungswerk Rheinhessen, der Volkshochschule Bingen, Rheinhessen gegen Rechts, dem Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN, dem pax christi Regionalverband Rhein-Main und dem Maximilian-Kolbe-Werk.

Stephanie Roth, ehrenamtliche Mitarbeiterin im Zeitzeugen-Projekt des Bistums Mainz, hatte die anderen anwesenden polnischen Zeitzeugen vorgestellt. Insgesamt sechs Ghetto- und KZ-Überlebende halten sich diese Woche im Kloster Jakobsberg auf und empfangen jeden Vormittag Schulklassen zu Gesprächen. Insgesamt konnten im Laufe der letzten Tage etwa 800 Schülerinnen und Schüler und etwa 150 Erwachsene die oft erschütternden Berichte der Überlebenden hören.

Wichtig war den Zeitzeugen in allen Gesprächen, gerade mit Blick auf die Europawahlen, der eindringliche Appell, heute sehr genau hinzuschauen und nicht jenen hinterher zu laufen, die am lautesten schreien und einfache Lösungen für komplexe Probleme anbieten.

Dass dieser Appell offenbar ankam, zeigen einige Rückmeldungen von Schülerinnen und Schülern:

  • „Danke für das Gespräch. Wir nehmen gern viel mit davon und wissen auch, dass wir unser Leben zu schätzen haben.“
  • „Was ganz anderes als wenn man nur liest ... es gibt einem persönlich auch viel, z.B. auch, wie wichtig es ist, dass man wählen geht, weil es eben nicht selbstverständlich ist wie wir hier leben.“
  • „Danke, dass uns heute die Möglichkeit gegeben wird, durch Gespräche und direkte Begegnungen Einblicke in die für uns unvorstellbaren Erlebnisse und Emotionen während und nach der Zeit der NS-Diktatur zu bekommen… Durch die Gespräche, die wir mit Ihnen führen dürfen, wird uns die Bedeutsamkeit von Toleranz und Frieden für das Zusammenleben der Menschen auf der Welt bewusster…“
  • „… dass die Erfahrungen, die wir heute mitnehmen, von uns weitergetragen werden müssen, um dazu beizutragen, einen wahren Frieden auf der Welt zu erlangen.“

 

Bereits am Montag, 20. Mai 2019, hatte die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Dr. Stefanie Hubig an einem Zeitzeugengespräch im Kloster Jakobsberg teilgenommen. Anschließend nahm sie an teil an der Unterzeichnung eines Kooperationsvertrages zwischen dem Arbeitskreis Jüdisches Bingen und der Rochus-Realschule Bingen-Büdesheim, der die Gedenkarbeit in Bingen intensivieren soll. Zuvor waren die Gäste von P. Rhabanus und P. Rochus als Vertreter der Klostergemeinschaft begrüßt worden.

Organisiert werden die Zeitzeugen-Besuche im Kloster Jakobsberg und an zwei weiteren Orten in Hessen vom Bistum Mainz in Kooperation mit dem Maximilian-Kolbe-Werk.

 

 

 

Kontakt:

Alois Bauer, Bistum Mainz, Referat Weltmission/ Gerechtigkeit und Frieden, Bischofsplatz 2, 55116 Mainz, Tel. 06131-253263, 0151-14638709, alois.bauer@bistum-mainz.de