Aus den Augen verloren

Datum:
Mo. 25. Dez. 2017
Von:
Ronald Givens
Predigt Weihnachtstag

Predigt 1. Weihnachtsfeiertag

Liebe Schwestern und Brüder,

der Kirchenchor fehlt mir. Ich habe früher so gerne gesungen, sagte der alte Mann. Aber nach meiner Operation habe ich meine Stimme verloren. Vor allem fehlen mir die anderen. Die Gemeinschaft.

Als ich mein Adressbuch eingetragen habe, wem ich zu Weihnachten geschrieben habe, wer mir geschrieben habe, bin ich auch zu Namen gekommen, da hab ich den Kontakt verloren. Wir waren einmal befreundet. Oder haben miteinander studiert, oder am selben Ort gelebt, aber dann habe ich diesen Menschen verloren. Es gibt schon lange keinen Eintrag mehr hinter seinem Namen.

Bevor sie sich um die Pflege der Mutter, und um den altgewordenen Vater, kümmern musste, hat sie gemalt. Im ganzen Treppenhaus hängen ihre Bilder. Unterschiedlich. Immer wieder hat sie neues ausprobiert. Dann aber war keine Zeit mehr. Pflege, Arztbesuche. Kümmern. Neben der Arbeit. Die Pinsel und die Farben sind verstaubt und eingetrocknet. Sie weiß gar nicht mehr, ob sie das noch kann, malen.

An Weihnachten werden wir nicht nur beschenkt. An Weihnachten wird auch deutlicher als sonst, was wir verloren haben. Eine Fähigkeit. Einen Freund. Zärtlichkeit. Nicht immer merken wir sofort, dass uns etwas fehlt, dass wir etwas verloren haben. Dinge, Menschen, Gefühle, Fähigkeiten gehen verloren, weil keine Zeit mehr war, weil ich unachtsam wurde, weil wir uns unterschiedlich entwickelt haben. Auch sehen  wir an Weihnachten, wer uns fehlt, wen wir verloren haben, wessen Platz leer bleibt.

Dreimal erzählt Jesus in Gleichnissen vom Verlieren. Der Vater, der seinen jüngeren Sohn verliert. Der Hirte, dem von hundert Schafen eines verloren geht. Die Frau, die von zehn Drachmen eine verliert.

Diese zehn Drachmen sind ihr ganzer Besitz. Ihre Aussteuer. Ihr Leben. Da macht sie das Licht an. Sie sucht im ganzen Haus, in jedem Winkel, solange bis sie die Drachme wiederfindet.

Das feiern wir heute. Gott hat sich nicht damit abgefunden, dass einer von uns ihm verlorengeht, dass wir ihn vergessen, dass er in unseren Alltag nur schwer unterzubekommen ist. So wie die Frau Licht anzündet, um auch in den dunklen Ecken zu suchen, so kommt in Jesus Gottes Licht zu uns. Nichts ist ihm zu dunkel, nichts zu finster, nichts zu verwinkelt, als dass er nicht mit seinem Licht dorthin käme und sagen würde: ich suche dich. Ich vermisse dich. Du bist mir kostbar.

Der barmherzige Vater jubelt, als er den verlorenen Sohn wieder in den Armen hält. Der Hirte ruft die Freunde zusammen, als er sein Schaf gefunden hat. Die Frau feiert mit ihren Nachbarrinnen ein Fest, als sie die Drachme gefunden hat. Heute feiern wir ein Fest. Ein Hochfest. Es erinnert uns daran, dass wir es wie Gott machen können: nicht jammern und klagen, was wir verloren haben, was uns fehlt, was anders geworden ist, sondern etwas verändern, suchen, Staub aufwirbeln, es ans Licht bringen. Vielleicht finden wir dabei etwa ganz anderes als gedacht. Entdecken dabei etwas Neues. Vielleicht merken wir, dass wir uns verändern müssen, um den anderen wieder zu finden. Gott ermutigt uns, zu spüren was fehlt mir, es auszusprechen, es anzusprechen, es zu verändern. Nicht die Finsternis feiern wir, sondern das Licht.

Gott will ans Licht bringen, wo uns das Leben, etwas Wichtiges im Leben, verloren gegangen ist. Er macht über seinen Wunsch, dass wir lebendig bleiben sollen, nicht viele Worte. Er wird Fleisch. Sein Wort wird Mensch. In Jesus zeigt er, wie er sucht, wie er liebt, wie er sich nicht abfindet, dass etwas zerbrochen, etwas davongelaufen, etwas am verlöschen ist. Gott kommt vom Himmel, dass wir aus der dunklen Jammerecke hervorkommen.

Er geht aber noch weiter. Heute gibt er uns sein Wort, dass er sogar die aufsucht, die im Dunkel des Todes sind, die wir vermissen und trotz aller Sehnsucht nicht erreichen können. Er wird Mensch, damit er am Ende seines Lebens auch zu denen, die wir vermissen, sagen kann: hier bin ich. Ich habe dich gesucht. Ich bringe dich ans Licht, ins Licht. Du hast meinem Vater gefehlt. Lass uns gemeinsam warten bis alle die zu seinem Leben dazugehören angekommen sind, in der Fülle des Lebens. Amen.