Fastenzeit 2022

Vaterunser 2. Fastensonntag

Datum:
So. 13. März 2022
Von:
Pfarrer Ronald Ashley Givens

Betrachtung zum Vaterunser 2

Die ersten Worte des Vaterunsers sind freigelegt. Wort für Wort wurde die schwarze Schicht weggekratzt um sichtbar zu machen: Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Aber weit mehr ist schwarz geblieben, bleibt unter der Oberfläche verborgen.

Wenn man zu jemandem sagt: du bist jetzt Vater, dann glaubt man für einen kurzen Augenblick, damit sei alles gesagt. Das Wort Vater sei klar umrissen, in seiner Bedeutung eindeutig. Aber schon einen Atemzug weiter, beginnt eine Vaterflut. So viel verbindet sich mit diesem Wort an eigener Lebensgeschichte, an Vaterglück und Vaterversagen.

Wie mag es Jesus als Kind in Nazareth ergangen sein, wenn beim Spielen die anderen Kinder ihn geschubst und gerufen haben: Du hast doch gar keinen Vater. Der Josef ist doch gar nicht dein Vater. Noch als Erwachsener bekommt er von den Schriftgelehrten zu hören: „WIR stammen nicht aus einem Ehebruch.“ (Joh 8) Hat es ihn mit dreißig Jahren noch verletzt, unehelich gezeugt zu sein?

Der zeitgenössische Schriftsteller Ralf Rothmann, schreibt sich über drei Bände hinweg seine Vaterbilder von der Seele. Sein eigener Vater hat nie gesprochen, nicht über seine Jugend im Krieg, nicht über sein Vaterwerden und Vatersein. Sohn und Vater haben sich verloren.

Und was ist eine Mutter? Wer darf sich Mutter oder Vater nennen? Schenkt die Liebe eines Kindes diese Bezeichnung? Wird man das durch Geburt eines Kindes?  Oder reicht der Wunsch Leben zu schenken, um eine Mutter, ein Vater, eine Oma oder ein Opa zu sein? Selbst wer glaubt, das wäre klar umrissen zu beantworten, der mag mitunter beklommen vor einem Kind stehen und sich fragen, bin ich dir eine gute Mutter? Findest du in mir den Vater, den dein Leben braucht?

Unsere eigene Biographie macht die Begriffe, die Worte, kaum dass wir sie nennen, schon wieder unscharf. Wer ist geworden wie seine Mutter? Wie sein Vater? Wer will das?

Wieviel Kraft kostet es mitunter sich von einer Mutter, einem Vater zu lösen, die dieses Wort Vater, dieses Wort Mutter mehr biologisch, als liebend gefüllt haben. So ist es mit allen diesen Begriffen, Worten, die mit unseren Beziehungen zu einem anderen Menschen zu tun haben. Mama, Papa, Tochter, Sohn, Onkel, Tante, Freundin und Freund, Lebenspartnerin und Partner, Witwer und Witwe. Durch wie viele Leben sind diese Worte gegangen und jede und jeder hat seinen Fingerabdruck auf ihnen hinterlassen. Diese Worte sind bunt geprägt. Wie bei einem Eisberg ist nur das Wenigste zu sehen, wenn jemand zu uns sagt: ich bin deine Freundin, ich bin dein Vater, ich bin dein Sohn oder du bist meine Mutter. Wie oft stehen wir da und stellen fest, das hätte ich nie gedacht, dass sich unsere Beziehung einmal so verändert, dass ich gar nicht mehr richtig weiß, was ich Dir bin, wer Du mir bist.

Wenn wir „Vater unser im Himmel“ beten, dann kann schon der mir liebste Mensch, neben mir, etwas ganz anderes meinen und beten, bei diesem ersten Wort und ich wäre wahrscheinlich sprachlos wieviel aufbricht, wenn er oder sie mir erzählen würde oder könnte, was unter der Oberfläche verborgen ist. Und wer bin ich, dass ich sagen könnte, so wie du einen Papa, eine Mama im Himmel denkst, Dir vorstellst, das ist viel zu irdisch, viel zu sehr von Dir und deiner Lebenserfahrung geprägt? Ist es bei mir anders? Wie viel Not und wie viel Glück, wieviel Schmerz und wieviel Liebe, wieviel Haß und wieviel Zuneigung mag zum Himmel emporsteigen, wenn einen Gemeinde anhebt zu beten: Vater unser im Himmel.

Es ist gut, dass die Bundesregierung neu die Frage stellt, wie wird man ein Vater, wie wird man eine Mutter? Was ist eine Familie? Wer ist mir wirklich eine Freundin, ein Freund? Wem bin ich anvertraut in guten und in bösen Tagen? In Gesundheit und in Krankheit?

Wer vor diesen Fragen Angst hat oder meint sie seien schon beantwortet, der hat sich beim Vaterunser noch nie umgeschaut, noch nie gefragt, was bedeutet für mein Kind, was bedeutet für mein Gegenüber, was bedeutet es für den Pfarrer oder für die die Frau dort drüben, wenn sie dieses Wort an die Oberfläche holen, an dem so viele Lebenslinien ihre Spuren hinterlassen haben. Das erste Wort lädt ein, weit zu werden. Wie der Himmel, der mehr birgt, als es das Wort Vater oder Mutter im Himmel sagen könnte.