Fastenzeit 2022

Vaterunser 5. Fastensonntag

Datum:
So. 3. Apr. 2022
Von:
Pfarrer Ronald Ashley Givens

Betrachtung zum Vaterunser 5

Unser tägliches Brot gib uns heute

Brotgeschichten. Die meisten kennen Sie schon. Dennoch, will ich sie erzählen, weil sie unser tägliches Brot uns erzählen. Wir sind als Pilgergruppe am Nil. Voller Stolz und voller Freude bringt uns unser Reiseführer in seine Heimatgemeinde, zu seiner Kirche. Wir dürfen dort Gottesdienst feiern. Das ist nicht selbstverständlich. Die Kirchenspaltung, das was seine und unsere Kirche sich im Laufe der Jahrhunderte gegenseitig angetan und vorgeworfen haben, hat es an anderen Orten in Ägypten schwer gemacht, einen Raum, eine Kirche zu finden, um Gottesdienst zu feiern. Gerade als wir anfangen wollen zu feiern, steht eine Familie vor unserer Pilgergruppe. Alle tiefschwarz gekleidet und sie halten Brot in den Händen. Fladenbrot. Frisch gebacken. Am morgen haben sie den Ehemann, den Vater, den der Arbeit hatte, den der das tägliche Brot verdient hat, beerdigt. Jetzt kommen sie, um mit uns das Brot zu teilen, als sie hören, dass wir in ihrer Kirche Gottesdienst feiern. Sie möchten mit uns ihre Trauer, ihre Gastfreundschaft, ihren Glauben an die Auferstehung, ihre  Sorge um das tägliche Brot teilen. Jede aus der Gruppe erhält ein Brot. Für die Familie ist das viel, eine Gastfreundschaft, die sie viel tägliches Brot kostet. Als ich das kleine Fladenbrot im Gottesdienst hoch halte, „seht das Lamm Gottes“, steckt so viel Leben, so viel Trauer, so viel Liebe in diesem Brot.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Jeden Tag kam Rilke, als er in Paris lebte, an einem Platz vorbei, an dem eine Bettlerin saß. Jeden Tag am selben Platz. Stumm die Hand ausstreckend. Eines Tages brachte Rilke ihr eine frisch aufgeblühte weiße Rose mit, legte sie der Bettlerin behutsam in die ausgestreckte Hand. Sie stand auf, küsste Rilke die Hand und verschwand. Eine Woche lang, suchte er sie vergeblich an ihrem Platz. Sie war verschwunden. Als sie nach einer Woche wieder an ihrem  vertrauten Platz saß, bettelnd um das tägliche Brot, fragte Rilke sie, wovon sie denn gelebt habe, in diesen Tagen, da sie nicht zum Betteln erschienen war. Sie schaute ihn an und sagte: „Von der Rose.“

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Er kommt aus Brasilien. Er lebt in einem der größten Elendsviertel dieser Erde in einer einfachen Hütte. Er arbeitet als Tagelöhner. Einer von denen, die Morgens an den Straßenecken stehen, und hoffen, dass sie mitgenommen werden auf eine Baustelle, in eine Plantage um für einen Tag Arbeit zu haben, für einen Tag zu essen. Er müsste das nicht. Er schreibt Bücher. Neben Portugesch, spricht er fließend Spanisch, Deutsch, Englisch, Latein, Griechisch und Hebräisch. Er ist auch Professor. Für Theologie. Er teilt alles was er hat mit den Menschen in seiner Favela. Der heilige Papst Johannes Paul II. hat ihm verboten zu lehren. Ihm verboten zu schreiben. Weil dieser Priester, dieser Tagelöhner, dieser Professor überzeugt war, dass erst der Mensch satt sein müsse, dass er erst frei sein müsse, bevor man ihm von Gott erzählen darf. Dass eine Kirche zuerst für das tägliche Brot kämpfen müsse, bevor sie vom himmlischen Brot zu den Menschen spricht. Als Leonardo Boff in Deutschland mehrere Monate zu Gast war, da hat er gelitten, wenn im Gottesdienst das Vaterunser gebetet wurde. Er war überzeugt solange nicht alle Menschen sich tägliches Brot leisten können, solange Menschen nicht gerecht entlohnt werden, solange für ihre Bodenschätze und Erzeugnisse nicht ein fairer Preis bezahlt wird, ist das tägliche Brot mit dem Leben der Armen bezahlt, wird es gebacken mit ihrer Lebenskraft und Lebenszeit. Für ihn hörte sich die Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ mehr nach „Mein tägliches Brot gib mir“ an.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Waren sie schon einmal mit dem Bundeskanzler an einem Tisch zum Mittagessen gesessen? Oder mit dem Papst beim Abendessen? Mit dem Bürgermeister oder mit dem Bischof an einem Tisch? Oder vielleicht mit einer Nobelpreisträgerin oder einem Weltfußballer? So außergewöhnlich war es für die Menschen im damaligen Israel, dass dieser Wunderrabbi, zu dem die Menschen von überall her gelaufen sind, um ihm zuzuhören, um geheilt zu werden, um ihn zu berühren, einfach mit Ihnen gemeinsam gegessen hat. Ganz unkompliziert gefragt hat, wer hat Hunger, wer hat noch Brot, wer hat noch Fisch, bei wem kann ich heute zu Gast sein? Und dann das, was da war, geteilt hat. Mit allen, ohne Unterschied. Einfach nur weil er wusste, wie gut es ist mit Jemanden zu essen und zu trinken, den man liebt, dem man zeigen möchte, ich bin gerne mit dir zusammen. Spüren wir nach 2000 Jahren noch wie wunderschön das ist, dass Gott selbst mit uns Brot bricht, dass er mit uns jetzt zu Tisch ist? Pocht unser Herz noch vor Aufregung, dass wir heute zu Tisch sind mit Gott? Sind wir gerührt, dass er unsere Tischgemeinschaft sucht? Nach einer Woche Alltag, nach einer Woche Gelungenem und Misslungenem, da kommt Gott von seinem Himmel und bringt sein Brot mit. Damit  wir ausruhen, dass wir Sonntagsbrot essen, damit wir aufatmen und staunen. Ohne Bedingungen, ohne komplizierte Einladung. Wie wunderschön ist das. Gott möchte sein tägliches Brot mit uns teilen.

Unser tägliches Brot gib uns heute. Soviel Sehnsucht nach Leben, nach gemeinsamen Trauern und Lieben, nach Hilfe und Berührung, nach Solidarität und nach Würde, soviel Mensch und soviel Gott, so viel Himmel und so viel Erde steckt in diesem täglichen Brot., So viel Wir und Uns und Unser und Du steckt  in dieser kostbaren Bitte des Vaterunsers.