Goldene Tränen

8. Türe im Adventskalender

Datum:
Do. 8. Dez. 2016
Von:
Ronald Givens
Jeden Tag im Advent eine Betrachtung

Wenn man von Bethanien her auf Jerusalem zugeht, dann kommt man auf den Kamm des Ölberges. Der Blick geht vom Ölberg hinüber auf Jerusalem. Die Stadt liegt mit ihrer Stadtmauer, den vielen Kuppeln, Türmen und Minaretten auf der gegenüberliegenden Seite. Dazwischen ein Tal.

Auch wenn der Blick Jesu natürlich eine ganze andere Stadtsiluette getroffen hat, mit Tempel anstelle von Felsendom und Grabeskirche, so kann man sich doch hineindenken wie Jesus die Stadt wahrgenommen hat. Es heisst in den Evangelien, er habe eines Tages geweint, als er so von Bethanien herkommend auf Jerusalem und den Tempel geschaut habe. Jesus war bewusst geworden, dass diese Stadt, die Stadt in der der Tempel Gottes, seines Vaters, steht ihn ablehnt. Immer klarer hat er die Zeichen gedeutet. Er hat den Fragen an ihn, den Angriffen, den Fallen, die ihm gestellt wurden, entnehmen müssen, dass die religiösen Führer, die politisch Verantwortlichen ihn mehrheitlich ablehnen.

An eben jener Stelle am Hang des Ölberges, an der der Überlieferung nach Jesus geweint hat, steht heute eine kleine Kirche. Umgeben von Ölbäumen fällt diese Kirche besonders durch ihre Form auf. Sie ist einer Träne nachgebildet. Ihr schiefergraues Dach fällt wie eine Träne zu Boden. Darum heisst die Kirche auch „Dominus Flevit", der „Herr weinte".

Fast jeder, der schon einmal Bilder von Jerusalem gesehen hat, kennt diese Kirche. Weniger von außen das Tränendach, als vielmehr der Blick von innen: Man schaut durch ein großes Panoramafenster, in das ein stilisierter Kelch eingefügt ist, auf Jerusalem. Wer dort war, möchte natürlich diesen Blick durch das Kelchfenster fotographieren.

Nicht jeder geht gerne in den Advent. Denn der Advent führt nicht nur auf Weihnachten hin, sondern er ist für den ein oder anderen auch die Zeit, die noch einmal schmerzlich zum Verlust hin führt. Gerade an Weihnachten, gerade im Advent wird schmerzhaft bewusst, wer einmal an Weihnachten dagewesen ist, wer dazu gehört und nun nicht mehr da ist. Weihnachten ist auch die tiefe Erinnerung an die Verstorbenen, die gerade dann ganz besonders fehlen.

Als ich in diesem Jahr die Dominus Flevit Kirche betreten habe, ist mir aufgefallen, dass ein paar der Besucher dort, nicht nur das Jerusalem Panorama fotographiert haben, sondern Kopf und den Foto nach oben zur Decke gerichtet hatten. Ich folgte der Blickrichtung und sah zum ersten Mal, dass die Tränenkuppel innen vergoldet ist.

Das hat mich angerüht: Eine schiefergraue Träne von außen, und innen ist sie golden. Das geht sicher nicht unmittelbar, und vielleicht braucht es auch Jahre, bis der Blick auf den Verlust, der Schmerz, die Trauer sich so wendet, dass ich wahrnehmen kann, dass die Träne innen golden ist.

Das ist eine Verheißung. Eine Adventsverheißung: der Herr selbst wird die Tränen in einem Krug sammeln, sie zählen, wie es im Psalm 59 heißt und in der Offenbarung des Johannes: und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen.