Ich bin ein Viernheimer

Beispiele gelungener Integration

Datum:
Mo. 15. Juni 2020
Von:
Herbert Kohl

In fünf Jahren zum Abitur

Lawand - Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Abitur. Wie geht es dir?

Ich bin erleichtert, dass ich es geschafft habe. Ich habe mich behauptet und das ist für mich eine große Anerkennung.

Erzähl doch kurz von dir.

Ich komme aus Kobane in Syrien und bin Kurde. Meine Muttersprache ist kurdisch. Unsere Sprache war in Syrien verboten. Wir waren gezwungen, arabisch zu lernen. Ich denke in Kurdisch und habe im Kopf auf Arabisch übersetzt und dann auf Deutsch.

Wie ist das heute?

Heute denke ich in Deutsch. Ich träume auf Deutsch oder Kurdisch.

Hast Du Familie?

Meine Familie lebt in der Türkei. Ich wünschte, meine Familie wäre hier und wir würden hier in Frieden leben. Ich habe drei Brüder und zwei Schwestern. Sie leben im Ghetto in Adiaman, in der Nähe der syrischen Grenze. Psychisch, rechtlich und medizinisch geht es ihnen nicht gut. Ich habe selbst dort auf einer Baustelle gearbeitet. Ich musste viel Zement schleppen und wurde nicht bezahlt. Die Menschen dort sind rechtlos.

Wann bist du nach Viernheim gekommen?

Ich kam Ende 2015 nach Viernheim und habe kein Wort Deutsch gesprochen. Ich war 16 Jahre alt und wurde 2016 der Elisabeth–Selbert-Schule in Lampertheim zugewiesen. Ich kam in eine Integrationsklasse. Das hat mir aber nicht wirklich geholfen. Man hat mir deutlich zu verstehen gegeben: „Du schaffst das sowieso nicht. Viele sind schon Jahre hier und schaffen nicht mal die Hauptschule.“

Das hat mich aber nicht entmutigt. Ich habe mich beim THW angemeldet und beim TSV-Amicitia Fußball gespielt. Ich wollte viele Menschen kennenlernen, um mit ihnen zu sprechen.  Ich war wie ein Baby, das nicht sprechen kann. Langsam habe ich die deutsche Sprache verstanden, konnte aber nicht antworten. Erst später lernte ich zu reden. Ich war im Zeltlager der KjG St. Hildegard 2-3-mal – das hat mir sehr geholfen, die Sprache zu lernen. Viele Kinder und Jugendliche haben mir geholfen, die Sprache zu lernen. Sie haben meine Aussprache verbessert.

 

Wo hast du gewohnt?

Ich habe im ehemaligen Rhein-Neckar-Hotel gewohnt, mit drei anderen Leuten in einem Zimmer. Da hatte man keine Ruhe zum Lernen. Ich habe mir viel selbst beigebracht, z.B. über Youtube und Radio. Ich habe viel wiederholt. Viele Wörter habe ich 20 Mal geschrieben. Dann habe ich ein Zimmer gefunden. Dann wurde alles besser. Durch die Hilfe von Anke Winkler und Annette Reinhardt-Klee habe ich das Zimmer gefunden, über das Projekt „Vermiete doch an die Stadt“. Anke Winkler ist meine Tandempartnerin. Sie ist meine Ersatzmutter. Sie hat mir am Anfang einen Block und einen Bleistift gekauft. Das hat mir sehr viel bedeutet, denn es hat mich sehr motiviert. Sie hat mich immer begleitet und unterstützt.

Die Katholische Kirche hat mir viel geholfen. Viele Menschen waren für mich da. Christine Teichmann hat mir Nachhilfe in Mathe gegeben. Zudem bin ich  Mitglied der Selbsthilfegruppe Helping Hands und habe in dieser Aufgabe viel für andere Geflüchtete übersetzt, bei Behörden oder im Krankenhaus. Das hat mich weitergebracht. Ich habe mir vorher schon überlegt, was ich sagen will.  

Wie kamst du in die Albertus-Magnus-Schule?

Ignatius Löckemann, Professor Ling vom Ordinariat in Mainz und Anke Winkler haben sich für mich stark gemacht. Ich habe immer von der AMS geträumt, als ich vorbeigelaufen bin. Die Lehrer waren alle super nett. Die Schüler waren erst einmal distanziert. Ich hatte das Gefühl sie haben Angst vor mir. Ich habe sie aber eingeladen zu mir nach Hause. Dann habe ich sehr viele Freunde gefunden. Die Lehrer haben sich besonders um mich gekümmert. Das war ein gutes Gefühl für mich. Sie sagten: „Du schaffst das ...“

Wie hast du es geschafft, – in so kurzer Zeit - dein Abi zu machen? Gibt es ein Erfolgsrezept?

Ich habe viele Unterstützer gehabt, Menschen, die an mich geglaubt haben. Das habe ich auf dem Gymnasium auch dringend gebraucht, denn jedes Fach hat seine eigene Fachsprache. Ich habe direkt mit Gedichten von Goethe und Schiller angefangen. Das war richtig schwer, denn ich bin direkt in die 10. Klasse eingestiegen, ohne Grundlagen. Dieter Rihm hat mir viel beigebracht, vor allem in Geschichte und Deutsch. Er hat mich auch sehr unterstützt. Auch Stefan Ackermann hat mir bei Gedichten und Deutsch sehr geholfen.

Man muss fleißig sein, sich immer wieder motivieren und nie aufgeben, egal was passiert. Ich habe viel durchgemacht und hatte Angst zu versagen. Ich wollte aber nicht die Menschen enttäuschen, die an mich glauben. Ich kannte keinen Schlaf. Ich habt täglich maximal vier Stunden geschlafen. An den Tagen, an denen ich Klausuren hatte, habe ich manchmal gar nicht geschlafen. Viele Geflüchtete wollen „nur“ Geld verdienen und verstehen nicht, das Wissen und die Sprache der Schlüssel zur Welt sind.

 

Was hat dich motiviert? Was oder wer hat dir Kraft gegeben?

Es waren vor allem Anke Winkler und meine Freunde. Unmittelbar vor dem Abi haben sie mir 20 Nachrichten geschickt, um mich zu unterstützen. Sie haben an mich geglaubt.

Was hast du nun vor?

Eigentlich wollte ich immer Medizin studieren, aber meine Noten beim Abitur waren nicht gut genug. Wenn ich hier geboren worden wäre, hätte ich das bestimmt besser geschafft. Aktuell plane ich, Notfallsanitäter zu werden - eine dreijährige Ausbildung. Danach schauen wir mal. Aber die Frist ist schon abgelaufen. Aktuell arbeite ich in einer Apotheke und liefere Medikamente aus. Damit verdiene ich mir was dazu. Ich suche einen Ausbildungsplatz. Die Zeit ist sehr knapp.

Was bedeutet dir Viernheim?

„Ich bin ein Viernheimer“. Diesen Satz sage ich voller Stolz, denn ich glaube das Viernheim wie eine zweite Heimat für mich geworden ist, vor allem durch die Menschen, die hier leben. Ich würde gerne bei den Helping Hands bleiben und anderen helfen. Ich bin gläubig. Wer hilft, der wird auch Hilfe erfahren. Das habe ich aus der Bibel gelernt. Ich will gerne Deutschland und Viernheim etwas zurückgeben von der Hilfe, die ich erfahren habe.

Ganz herzlichen Dank für das Gespräch und Gottes Segen für deine Zukunft.