Nächstes Jahr in Jerusalem

Pilgerreise 40

Datum:
Mo. 4. Mai 2020
Von:
Pfarrer Ronald Givens

Virtuelle Pilgerreise 2020, 40 Lea

Von Shivta fahren wir durch eine ausgesprochen schöne Wüstenlandschaft nach Mamshit. Über uns kreist lautlos ein weißer Zeppelin. Wir sind in unmittelbarer Nähe von Dimona, dem Ort des israelischen Atomprogramms. Auch wenn wir mit Erlaubnis im Naturschutzgebiet unterwegs sind, wird jeder unserer Schritte registriert.

Am Zugang zur Ausgrabungsstätte von Mamshit werden unsere Eintrittskarten für die Nationalparks gelocht. Eigentlich wären sie gestern abgelaufen. Aber Israel ist großzügig. Da wir das Land nicht verlassen können, behalten die Berechtigungskarten erst einmal ihre Gültigkeit. Auch hier sind wir die einzigen Touristen, dennoch gibt es genug Magnum-Schoko-Eis im kleinen Kiosk am Eingang zu kaufen. Das macht die Hitze deutlich erträglicher.

Es geht eine Anhöhe hinauf. Die Archäologen haben die ursprüngliche Befestigungsmauer dieser wichtigen Nabatäer-Stadt rekonstruiert und wieder errichtet. Mamshit war direkt über die Weihrauchroute mit Petra, der Hauptstadt des Königreiches der Nabatäer, verbunden. Wir queren auf der ehemaligen Hauptstraße die gesamte ausgegrabene Stadt, um zu der Schlucht zu gelangen. Sie liegt direkt hinter der Stadt. Erst dieses tiefe Wadi hat das Leben in Mamshit ermöglicht. Die Archäologen haben das ausgeklügelte Bewässerungssystem freigelegt, sodass man gut erkennen kann, wie das wertvolle Regenwasser aufgestaut und gesammelt wurde. In Tonkrügen und Lederschläuchen wurde es dann hinauf in die Stadt transportiert und in die privaten und öffentlichen Zisternen verteilt.

Auch Mamshit wurde christlich und war eine Bischofsstadt. Die Bischofskirche stand über der größten Zisterne der Stadt. So war zum einen der Platz gut genutzt, zum anderen der Wasservorrat geschützt und vor der Hitze gekühlt.

Das ist ein eindrucksvolles Bild: Eine Gemeinde versammelt sich über dem gemeinschaftlichen Wasservorrat der Stadt. Das für alle Lebensnotwendige wird geschützt und es wird dafür Sorge getragen, dass es an alle gerecht verteilt wird. Zugleich daran erinnert werden, immer wieder in die Tiefe zu gehen, dafür zu sorgen, dass das geistliche Leben nicht vertrocknet oder oberflächlich wird.

Zum Abschluss unserer Besichtigung in Mamshit feiern wir eine Andacht. Im Mittelpunkt steht Lea, die Tochter Labans, die Frau Jakobs.

Morgen soll meine Schwester Rahel heiraten. Es ist ungerecht. Ich bin die Ältere. Aber Jakob hat kein Auge für mich. Er würdigt mich keines Blickes. Er sieht nur Rahel.

Lange hat meine Mutter mit Laban, meinem Vater, in den letzten Tagen diskutiert und gestritten. Sie weiß genau, wenn Jakob ihre jüngere Tochter Rahel heiratet, dass dann kein Beduine, kein Mann Lea jemals heiraten wird. Wenn die Ältere im Zelt bleibt, dann ist sie verflucht. Erst muss Lea weg, damit auch sie versorgt ist. Laban muss sich was einfallen lassen.

Ich habe am Zelt gelauscht. Sie haben über mich geredet und gestritten, wie über ein Stück Vieh. Ich hasse Rahel. Zugleich bin ich erschrocken, dass mein Herz so denkt. Sie ist meine Schwester - wie viel Schönes haben wir gemeinsam erlebt. (Genesis 29,16-30)

Natürlich wissen die meisten von uns, wie die Geschichte weitergeht. Jakob bekommt in der Hochzeitsnacht nicht Rahel, sondern in der Dunkelheit jubelt Laban ihm seine Tochter Lea unter. In den früheren Bibelübersetzungen hieß es noch: Lea, die Triefäugige. In den jetzigen Übersetzungen heißt es: Lea hatte müde Augen oder matte Augen. (Genesis 29,17)

Die Augen können müde oder matt werden, wenn es keine Perspektive gibt. Augen können müde werden, wenn ich mich zu oft vergleiche. Immer werde ich jemand sehen, der jünger oder  erfolgreicher, gesünder oder was auch immer ist. Dieser vergleichende Blick kostet  Kraft, so dass nur noch ein müder Blick auf das eigene Leben übrig bleibt.

Hier im Negev sind die großen Flüchtlingslager Israels. Wie in allen Flüchtlingslagern, egal ob hier in der Wüste, auf den griechischen Inseln, in Jordanien und der Türkei oder in Afrika - der Blick, der nicht über die Grenzen gehen darf, wird müde und wird matt.

Meine Kinder haben mich gelehrt, zu leben. Erst habe ich geglaubt, dass ich für Jakob Kinder gebären müsste, damit er mich wahrnimmt. Ich habe geglaubt, er mich wegen der Kinder sieht und liebt. (Genesis 29,31-30,24)

Meine Kinder haben mich gelehrt, dass Gott uns um unserer selbst willen liebt. Sie haben mir stolz erzählt, wie Jakob jeden und jede von ihnen gesegnet hat. Nicht einen Segen für alle, sondern für jeden ein eigenes Segenswort. Sie haben gespürt, dass jeder anders und dieses Anderssein etwas Kostbares ist.

Wie viel früher hätte ich mit Rahel die Zeit im Zelt genießen können, wenn wir gemeinsam das Essen zubereitet und erzählt haben. Aber ich konnte so lange kein gutes Wort finden, weil der Neid mein Herz blockierte - wie viel vertane Zeit!

Unsere Augen werden oftmals am Ende des Lebens müde und matt. Altersblindheit begleitet viele in den letzten Jahren des Lebens. Die Osterzeit, die wir jetzt als Pilgergruppe hier in der Wüste begehen, ist eine Augenkur. Die Osterzeit kuriert unsere Augen davon, zu sehr auf das zu schauen, was einmal in der Dunkelheit des Todes ewig versinken wird und zugleich das in den Blick zu nehmen, was auch im Licht der Auferstehung Bestand haben wird.

Wir schließen unsere Andacht damit ab, dass wir etwas Weihwasser in eine bunt bemalte Keramikschale geben. In der ehemaligen Bischofskirche, über der Zisterne, taucht ein jeder seinen Daumen in das geheiligte Wasser und segnet die Augen des Nachbars oder der Nachbarin: Gott nehme die Müdigkeit von deinen Augen und schenke dir den zuversichtlichen Blick auf die Auferstehung.

Ich lade Sie ein,  in Ihrer Pilgergruppe eine Augenkur zu machen. Sprechen Sie darüber, was Sie unter müden Augen verstehen und was Sie in dieser Osterzeit gerne in den Blick nehmen.

Segnen Sie Ihre Augen. Ein Kreuzzeichen auf jedes Auge, auf das es österlich sehe. Wenn Sie haben, dann nehmen Sie dazu Weihwasser. Man kann das zur Not auch über den Bildschirm machen.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Pilgertag.

In diesem Sinne: L'Shana Haba'ah B'Yerushalayim (לשנה הבאה בירושלים)

Ihr Pfarrer

Dr. Ronald Ashley Givens