Predigt 20 September 2020

Sondervotum

Datum:
So. 20. Sep. 2020
Von:
Pfarrer Ronald Ashley Givens

Predigt zu Mathäus 20, 1-16a

Liebe Schwestern und Brüder,

In einem blauen Kleid sitzt eine ältere Dame vor einem halbrunden Tisch. Sie schaut in die Gesichter der Senatoren, die darüber zu befinden haben, ob sie, als Frau, als Jüdin, als Liberale, als Frauenrechtlerin geeignet ist, in das höchste amerikanische Gericht, den Supreme Court berufen zu werden. Drei Tage lang erzählt sie aus ihrem Leben, von Ihren juristischen Entscheidungen, stellt sich den Fragen.

Dann wendet sich der Vorsitzende, der konservative Senator Hatch aus Utah der zierlichen Dame zu. Mehrfach ist er zusammengezuckt als sie in diesen Tagen dargelegt hat, was ihre Ansichten zur Verfassung der Vereinigten Staaten ist, zu den Rechten von Frauen und Männern.

Es wird still im Saal als Hatch spricht:

Wir beide sind in vielen Fragen anderer Meinung. Aber das ist unerheblich. Ehrlich gesagt ich bewundere sie. Ich finde sie haben sich einen Platz am Supreme Court verdient.“ Ruth Bader Ginsburg wird Richterin am Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika.

 

Gut 150 Jahre bevor Gott in Bethlehem geboren worden ist, schreibt Cato der Ältere in Rom einen Leitfaden für Großgrundbesitzer, wie sie eine gute Landwirtschaft führen sollen. Darin steht unter anderem, dass die Gutsherren auf gar keinem Fall die teuer gekauften Sklaven für die Arbeit im Weinberg einsetzen sollen. Wird ein Sklave durch die harte körperliche Arbeit im Weinberg krank, dann ist es zu Schaden des Gutsherrn seines Besitzers. Da ist es besser Tagelöhner zu nehmen. Werden sie krank oder müde, verletzen sie sich, dann ist ihr Schaden. So ist das Recht.

Auch wenn wegen der einsetzenden Regenzeit oft nur 14 Tage für die Weinernte bleiben, soll der Gutsherr niemals am Morgen gleich alle Tagelöhner anwerben. Erst wenn er sieht wie die erste Truppe vorankommt, möge er erneut auf den Markt gehen und weitere anwerben. So kann er auch den Lohn drücken, denn selbstverständlich gebührt den später Angeworbenen ein geringerer Lohn. Cato legt dem Gutbesitzer auch nahe am Abend zum Markt zu gehen, um Arbeiter schon für den nächsten Tag anzuwerben. Wer an diesem Tag keine Arbeit gefunden hat, ist bereit zu einem geringen Lohn am nächsten Tag zu arbeiten. Schließlich möge der Weinbergbesitzer bedenken, dass ihm schon die Zeit verloren geht, die die Tagelöhner vom Markt bis zum Weinberg brauchen, daher sollen sie sich vor Sonnenaufgang schon auf den Weg machen.

 

Gut zehn Jahre nachdem Ruth Baader Ginsburg als Richterin berufen worden, hoffen Kläger vor dem Obersten Gericht ein mehr als fünfzig Jahre altes Bürgerrechtsgesetz abschaffen zu können. Es ist Konservativen schon lange ein Dorn im Auge. Es wurde geschrieben um Rassendiskriminierung zu verhindern. Die neue konservative Mehrheit unter den Richtern gibt ihnen Hoffnung auf Erfolg. Tatsächlich, das Gesetz fällt.

Aber es gibt Widerspruch. Von der kleinen zierlichen Richterin. Sie schreibt ein Sondervotum, darin heißt es: „Auf Rasse basierende Diskriminierung gibt es immer noch. Die heutige Entscheidung des Gerichts ist so, als würde man in einem Wolkenbruch den Regenschirm wegwerfen, nur weil man bisher nicht nass wurde.“

 

Was für eine Überraschung. Sie sind nicht für den nächsten Tag angeworben worden, sondern noch für diesen Tag. Was werden sie bekommen? Bis sie am Weinberg ankommen, ist die Sonne schon sehr tief. Mehr als eine halbe Stunde Arbeit haben sie nicht mehr. Das was Recht ist, was ihnen zusteht, wird nicht reichen für den Tag. Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. Dafür wird es nicht reichen. Der Gutsherr überrascht. Gott überrascht. Sie bekommen einen Lohn, der ausreicht, der satt macht. Für das Brot, dass sie brauchen. Für einen Tag. Sie haben kein Recht darauf. Sie konnten das nicht erwarten. Haben es nicht erwartet. Nicht damit gerechnet. Es ist Güte.

 

Die anderen sind enttäuscht. Sie haben sich ausgerechnet, was es sein könnte, als sie gesehen haben, welch Freudentaumel es bei den anderen geben hat. Natürlich haben sie kein Recht auf mehr. Aber sie habe gerechnet. Erwartet, gehofft. Was für eine Überraschung. Der Gutsherr überrascht. Gott überrascht. Er erfüllt nicht ihre Erwartung. Gott erfüllt nicht alle unsere Erwartungen. Unser tägliches Brot gib uns heute. Das haben sie. Das ist ihr Recht.

 

Das Sondervotum von Ruth Bader Ginsburg lässt aufhorchen. Alle ihre Sondervoten ließen aufhorchen. Die Jugend hört hin. Sie hören eine Stimme, die das Recht respektiert, das Recht achtet, und dennoch darum weiß: das Recht erfasst nicht immer das ganze Leben. Es gibt Leben, es gibt Schicksale, es gibt Situationen auf die hat das Recht keine Antwort. Niemand hat uns angeworben. Sie haben kein Recht. Niemand hat uns angeworben. Cato legt in seiner Schrift dar, dass das den Gutsherrn nicht kümmern muss. Er hat keine Verpflichtung gegenüber Tagelöhnern und sie haben kein Recht. Als sie einen Denar erhalten, gibt der Gutsherr, gibt Gott sein Sondervotum ab. Er dient dem Leben. Er nimmt wahr, was das Leben braucht, wenn das Recht nicht ausreicht.

 

Wir müssen nicht so hell leuchten wir Ruth Bader Ginsburg. Nicht so brillant wie diese Juristin sein. Aber Jesus traut uns zu, dass wir sein Sondervotum sind. Wir sind das Sondervotum Gottes. Nicht für jede Erwartung. Aber dort wo das Recht nicht das ganze Leben nähren und schützen kann, dort sind wir berufen die Welt zu überraschen, durch Güte, durch das, was wir haben und einsetzen, als Sondervotum für das Leben. Wir sind durch die Taufe und die Firmung zum Sondervotum Gottes berufen. Amen.

 

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