Predigt Allerheiligen Allerseelen

Himmlische Logik

Datum:
So. 1. Nov. 2020
Von:
Pfarrer Ronald Ashley Givens

Markus 6, 30-44: Die Apostel versammelten sich wieder bei Jesus und berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. 31 Da sagte er zu ihnen: Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus! Denn sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen. 32 Sie fuhren also mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein. 33 Aber man sah sie abfahren und viele erfuhren davon; sie liefen zu Fuß aus allen Städten dorthin und kamen noch vor ihnen an. 34 Als er ausstieg, sah er die vielen Menschen und hatte Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange. 35 Gegen Abend kamen seine Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät. 36 Schick sie weg, damit sie in die umliegenden Gehöfte und Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können! 37 Er erwiderte: Gebt ihr ihnen zu essen! Sie sagten zu ihm: Sollen wir weggehen, für zweihundert Denare Brot kaufen und es ihnen zu essen geben? 38 Er sagte zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Geht und seht nach! Sie sahen nach und berichteten: Fünf Brote und außerdem zwei Fische. 39 Dann befahl er ihnen, sie sollten sich in Mahlgemeinschaften im grünen Gras lagern. 40 Und sie ließen sich in Gruppen zu hundert und zu fünfzig nieder. 41 Darauf nahm er die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis, brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie diese an die Leute austeilten. Auch die zwei Fische ließ er unter allen verteilen. 42 Und alle aßen und wurden satt. 43 Und sie hoben Brocken auf, zwölf Körbe voll, und Reste von den Fischen. 44 Es waren fünftausend Männer, die von den Broten gegessen hatten.

 

Predigt Allerheiligen 2020

Ein Mönch nach dem anderen nimmt seinen Platz ein in der riesigen Abteikirche von Cluny. Sie kommen um zu beten. Für Wilhelm von Aquitanien und seine Familie, der 910 ihr Kloster im Burgund gegründet hat, damit die Mönche in diesem Kloster für ihn und die Seinen beten. Auch der junge Abt Odilo von Cluny nimmt einen Platz unter den betenden Brüdern ein. Äußerlich steht er ruhig wie immer da. Innerlich ist er tief erschüttert, nachdem er von einer Reise zu einem der Cluny unterstellten Klöster zurückgekehrt war.

Geplant war es anders. Eine Pause für die Jünger und Jesus. Eine Zeit der Stille. Ausruhen. Kraft schöpfen. Das Boot ist noch nicht einmal in der Nähe der kleinen Bucht, die sie sich ausgesucht hatten, da sieht Jesus die, von denen er und die Jünger sich zurückziehen wollten.

Wenn in Frankreich, Spanien, Italien, Belgien die Menschen ihr Haus nicht mehr verlassen dürfen, dann haben unsere europäische Nachbarn eine schmerzhaft erworbene Ahnung davon, wie sehr die Armen und die Kleinen am See Genezareth sich danach gesehnt haben, dass einer sie ansieht, anspricht, sich Zeit nimmt, in Ihrer Nähe bleibt. Jesu schenkt sich. Seine Zeit. Seine Nähe. Seine Worte. Corona lässt viele unserer europäischen Nachbarn erfahren wie zuwendungsarm man werden kann.

Ein Altes Sprichwort sagt: unter dem Krummstab ist gut leben. Im Gebiet der Abteien und Klöster von Cluny und Citaux sind die Abgaben und Lasten weit geringer, als bei den weltlichen Herren. Dennoch hinterlässt die dritte Missernte in Folge ihre tiefen Spuren. Der Hunger ist in Burgund und weiten Teilen Frankreichs eingekehrt, als Abt Odilo müde heimkehrt nach Cluny. Da hält er inne. Auf dem Weg liegen vom Schnee verweht zwei kleine Kinder. Vor Hunger und Kälte erfroren. Odilo bringt sie ins nächste Dorf, lässt sie bestatten, feiert für sie die Messe und kehrt mit diesem Bild der beiden verlassenen, erfrorenen Kinder heim nach Cluny.

Er hat sie zählen, er hat sie abwiegen, er hat sie berechnen lassen. Das Ergebnis: Fünf Brote und zwei Fische. Zu wenig für so viele.

Man darf wieder reisen. Nach Frankreich. Nach Belgien. Nach Irland. Man darf wieder reisen, wenn man eine Intensivpflegekraft ist, wenn man ein Arzt ist. Zu den Intensivstationen der europäischen Nachbarn. Deutschland hat noch Proviant. Die Bundesregierung ermutigt und unterstützt diese Art von Reisefreiheit. Wer hier auf den Besuch bei Freunden, bei der Familie, auf eine Geburtstagsfeier verzichtet, schafft diesen Proviant an Helfern, lässt die Fünf Brote und zwei Fische übrig, für die, die nichts mehr haben, die erschöpft und müde sind.

In der Stille, beim Beten und Singen der Psalmen wächst in Abt Odilo ein Plan. Keiner soll vergessen werden. Er will alle ins Gebet nehmen: Nicht nur Wilhelm und seine Familie, nicht nur die Mönche in den Klöstern. Alle, die auf dem Gebiet der Klöster von Cluny sterben, sollen wissen: an mich denkt jemand, für mich beten die Mönche in der großen Abteikirche von Cluny. Das ist für Odilo das Wichtigste. Doch genauso wichtig ist für ihn: jeder von den Lebenden bekommt an diesem Tag ein Almosen. Ein Brot und eine kleines Talglicht. Im grauen November Nahrung und Licht.

Allerheiligen: Niemals hätten die fünf Brote und zwei Fische gereicht. Niemals hätten die Kornspeicher und Talglichter von Cluny gereicht. Gezählt. Gewogen. Berechnet. Heilige wagen es dennoch. Sie geben ihren Proviant.  Sie holen ihre fünf Brote und zwei Fische hervor und vertrauen dem Himmel, das das Unmögliche möglich wird. Heilige lassen ihre Freiheit, ihre Möglichkeiten, ihre Stärke los, verzichten, damit die Grenzen verschwinden, zwischen Starken und Schwachen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Deutschen und Belgiern, zwischen Familie und Fremden, zwischen Immunstarken und Immunschwachen.

Der heilige Abt Odilo hat mit offenen Augen gesehen und die Bilder haben sein Herz bewegt. Man wird ihm vorgerechnet haben, wie unsinnig sein Tun ist. Heilige denken anders. Mitten in Corona feiern wir Allerheiligen. Heilige verschenken die Stärke ihres Ichs freiwillig dem schwachen Du und vertrauen darauf das diese himmlische Logik, das Antlitz dieser Erde verwandelt. Amen.