Predigtreihe zum Misereor Hungertuch

Predigt Vierter Fastensonntag

Datum:
So. 14. März 2021
Von:
Pfarrer Ronald Givens

Du stellst meine Füße auf weiten Raum

 

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

 

der Samstagmorgen beginnt bei mir fast immer auf dieselbe Art und Weise: ich ziehe mein Bett ab und trage, nach dem ersten Schluck Kaffee, schlaftrunken die Bettwäsche zur Waschmaschine. Auch wenn ich mich darauf freue, Abends in frisch gewaschener Bettwäsche zu schlafen, gehört dies nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.

Die Künstlerin, die das diesjährige Hungertuch gestaltet hat, ist einen umgekehrten Weg gegangen. Sie hat die Bettwäsche, die sie fein säuberlich aus einem Kloster und aus dem Krankenhaus erhalten hat, auf eine weite Reise mitgenommen: von Augsburg, wo sie lebt, nach Chile, dorthin, wo sie geboren wurde. In Chile angekommen, hat sie die saubere Bettwäsche aus dem Koffer genommen und ist mit ihr auf den „Platz der Würde“ gegangen. Dorthin wo der Fuß des Demonstranten gebrochen wurde, dessen Röntgenbild sich über die drei Teile des Hungertuches zieht. Sie hat die Bettwäsche aus der Tasche genommen und nach Spuren der Proteste gegen die Verelendung Chiles gesucht. Auf dem Boden, an den Wänden hat sie über diese Spuren gewischt. Deutlich kann man die Spuren dieser Aktion auf der zuvor strahlend sauberen Bettwäsche erkennen. Vom Platz der Würde hat sie Spuren aufgewischt, die davon Zeugnis ablegen, dass Menschen auf diesem Platz für ihre Würde gekämpft haben.

Auch Nikodemus hat Würde. An seiner Kleidung kann jeder in Jerusalem sehen, dass er dem Hohen Rat angehört. Er hat Zugang zum Haus des Hohen Priesters und zum Palast des römischen Statthalters Pontius Pilatus. Nikodemus wird gehört, sein Rat hat Gewicht. Nikodemus hat Verantwortung, hat Würde.

Ganz anders Jesus. Sein Ruf ist zweifelhaft. Seine Geburt unehelich. Sein Umgang unwürdig. Zöllner und Sünder seine Tischgenossen. Der Abstand zu Frauen viel zu gering für einen Rabbis. Seine Zuhörer: Kinder, Fischer, Schafhirten, Aussätzige, Arme, Prostituierte, Betrüger.

Nikodemus hat Würde. Jesus hat einen schlechten Ruf. Bei Tageslicht trennen sie Welten, dort der angesehene Ratsherr und dort der zweifelhafte Wanderrabbi aus Galiläa. Bei Nacht sucht Nikodemus Jesus auf. Er such seinen Rat. Der Ratsherr spürt, dass sein Leben hohl geworden ist. Noch sieht er es nicht so deutlich wie auf einem Röntgenbild, aber bei Nikodemus ist etwas zerbrochen. Noch erkennt er es selbst nicht, aber sein Herz, sein Glaube, seine Frömmigkeit bricht gerade mit all dem, was ihm bisher wichtig war.

Ein Künstler ist er nicht. Er hat sich von einem der Handwerker zeigen lassen wie man Kupfer bearbeitet. Jetzt sitzt er vor seinem Zelt. Mit einem Stein und einem Stück Holz hämmert er auf einem Stück Kupfer herum, bis er eine Schlange geformt hat. Zippora seine Frau schüttelt nur den Kopf, als gäbe es nicht schon genug Schlangen hier an diesem Platz, wo sie mit ihren Zelten lagern. Mose aber hat begriffen, dass es nicht die Giftschlangen sind, die sein Volk mit ihrem Biss vernichten, sondern ihr ewiges Gemeckere, ihre ewige Kritik, das vergiftet sie, nimmt ihnen den Blick für das Erreichte, für das Gute, für das Gelungene. Er nimmt die längste Zeltstange, die sie haben und befestigt seine Kupferschlange an der Spitze. Jeder im Lager der Israeliten kann sie sehen. Mose schreit: wenn euch das Gift des Murrens, wenn euch das Gift der Undankbarkeit, wenn euch das Gift des Herummäkelns gebissen und blind gemacht hat, dann schaut zu der Kupferschlange, sie heilt euch das Gute zu sehen, das Gott euch schenkt.

Als Nikodemus sich heimlich in der Nacht wegschleicht von seinem Besuch und Gespräch mit Jesus, da nimmt er das Bild von der Kupferschlange in seinem Herzen mit. Warum hat dieser Jesus ihm von der Kupferschlange, von Mose, vom Gift erzählt?

Am Karfreitag steht Nikodemus wie die anderen Mitglieder des Hohen Rates draußen vor den Stadtmauern von Jerusalem. Er schaut zu wie die Kreuze für die Verbrecher aufgestellt werden. Er sieht wie Jesus hoch oben an einem der Kreuze festgenagelt ist. Da begreift er was Jesus ihm sagen wollte. Er begreift das Bild von der Kupferschlange. Er begreift, dass Jesus sein Herz befreien möchte von dem Gift, dass in Gefahr ist ihm seine Lebendigkeit, seinen Glauben, seine Liebe zu Gott zu nehmen.

Am Abend des Karfreitags hat Nikodemus keine Würde mehr. Sein Ratsherrengewand ist mit Blut und Staub und Kot verschmiert. Seine Kollegen werden beobachtet haben, dass er diesen Verbrecher, dieses Jesus berührt, vom Kreuz genommen, ins Grab getragen hat. Nikodemus hat seine Würde gegen Unreinheit eingetauscht.

Für Nikodemus ist der Kot des gestorbenen Jesus, ist das Blut des gegeißelten Jesus, ist der Staub von Golgotha keine Unreinheit, es ist seine neugewonnene Würde. Es ist der Bruch mit Vielem, das ihm wichtig war, zu wichtig war. Er bleibt Jude, er bleibt fromm, er liebt den Tempel, aber er möchte dabei nicht verlernen, dass der Sabbath für den Menschen da ist, dass Gott aus Dornsträuchern und aus Aussätzigen sprechen kann, das der vorderste Platz im Tempel niemals so schön sein kann, wie neben einem Menschen, der von ganzem Herzen einen Neuanfang wagt, obwohl er vorher vieles gründlich falsch hat.

Auf dem Hungertuch sind die Flecken vom Platz der Würde zu sehen, neben dem gebrochenen Fuß. Es hat seine Zeit gebraucht bis Nikodemus sehen konnte, was sein Leben wirklich unrein macht und was nicht. Was ihm wirklich Würde gibt und was zu vernachlässigen ist. Das Hungertuch ist eine Einladung in der Fastenzeit hinzuschauen auf das, was nicht mehr dazu taugt meine Füße und mein Herz auf weiten Raum zu stellen. Amen.