Predigtreihe zum Misereor Hungertuch

Predigt Fünfter Fastensonntag

Datum:
So. 21. März 2021
Von:
Pfarrer Ronald Givens

Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes.

In jener Zeit gab es auch einige Griechen unter den Pilgern, die beim Paschafest in Jerusalem Gott anbeten wollten. Diese traten an Philíppus heran, der aus Betsáida in Galiläa stammte, und baten ihn: Herr, wir möchten Jesus sehen. Philíppus ging und sagte es Andreas; Andreas und Philíppus gingen und sagten es Jesus. Jesus aber antwortete ihnen: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird.

Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.

 

Liebe Schwestern und Brüder,

auch an diesem Sonntag möchte ich mit Ihnen auf das Misereor Hungertuch schauen. Die Künstlerin hat es in drei Teile aufgeteilt, die deutlich voneinander unterschieden sind. Nur der gebrochene Fuß zieht sich verbindend über die drei getrennten Bettlaken-Bereiche.

An jedem Tag des Jahres gibt es einen sogenannten Welttag. Eine gute Freundin von mir hat am Weltfrauentag Geburtstag, so hat sich mir dieser Welttag besonders ins Gedächtnis geschrieben. Heute ist ein Welttag, den ich wahrscheinlich übersehen hätte, hätte ich nicht vor ein paar Tagen eine eindrückliche Geschichte gehört.

 

Es ist schon ein wenig merkwürdig. Da sind diese griechischen Pilger, die wohl auf ihrem Weg nach Jerusalem oder in ihrer Pilgerherberge, von Jesus gehört haben. Nun wollen sie ihn sehen.  Man fragt sich, warum gehen die nicht einfach zu Jesus? Warum erst zu Philippus, dann der zu Andreas und beide wiederum zu Jesus. Wir wollen Jesus sehen. Warum geht das nicht einfacher?

Den Grund, warum das nicht einfacher geht, nehmen wir jeden Sonntag in den Mund. Sie kennen die Geschichte vom römischen Hauptmann dessen Sklave krank ist und der zu Jesus sagt: Herr ich bin nicht würdig dass Du eingehst unter mein Dach. Jesus wäre nach jüdischer Vorstellung unrein geworden, hätte er das Haus dieses Römers, eines Nichtjuden betreten.

Genauso war das auf dem Tempelberg in Jerusalem geregelt. Jesus, als Mann, als Jude von Geburt an, hielt sich in einem der inneren Bezirke des Tempels auf. Wer schon einmal in Jerusalem an der sogenannten Klagemauer war, kann dies bis heute eindrücklich sehen: Dort die ultraorthodoxen Männer, dann ein hoher Zaun, der die orthodoxen Frauen abtrennt und wieder ein Zaun, der alle anderen fern hält. Die Griechen, die Jesus sehen wollten, durften den Bereich nicht betreten, in dem Jesus sich aufhielt. Daher braucht es Philippus und Andreas als Dolmetscher und als Boten.

Wir möchten Jesus sehen.. Corona hat uns sehend gemacht. Bisher konnten wir einfach unseren Reisepass zücken und fast jedes Land der Erde hat uns willkommen geheißen. Corona lässt uns sehen wie es Menschen geht, die einen syrischen oder einer somalischen Pass haben. Wir sehen durch Corona wie es sich anfühlt, wenn wir nicht hingehen können, wohin wir gerne würden.

 

Wir möchten Jesus sehen.. Corona hat uns sehend gemacht. An vielen Abenden hat uns die Tagesschau Bilder gezeigt von Menschen, die kein Wasser haben, die keine Medikamente, die von allem zu wenig haben. Corona zeigt uns jetzt, dass wir zusehen müssen, dass diese Tageschaubildermenschen auch einen Impfstoff bekommen, dass sie auch Wasser für die Hygiene, dass sie auch Nahrung bekommen müssen, ansonsten wird Corona sich dort so lange vermehren und verändern, bis es stark genug ist unsere Impfungen, unseren Schutz zu überwinden. Wir sehen langsam, dass wir tatsächlich eine Menschheitsfamilie sind, dass es wirklich unsere Geschwister sind. Corona zwingt uns sie wirklich in den Blick zu nehmen.

Die Klassenlehrerin von Marie ruft eines Tages bei der Mutter an und beklagt sich, dass Marie und ihre Freundin Jule jeden Tag zu spät in die Schule kämen. Die Mutter kann sich das nicht recht erklären. Gemeinsam mit Marie und Jule war sie den Schulweg abgegangen, sie hatten miteinander überlegt wie lange die beiden brauchen, alles hatte gepasst. Als sie Marie darauf anspricht, bestätigt sie ihr, dass alles passt. „Aber warum kommt ihr dann zu spät?“ „Na, wegen Robbi!“ „Wer ist denn Robbi?“ „Na, der seht vor der Schule. Jeden Tag stehen wir dort Schlange, bis wir an Robbi vorbei in den Schulhof können“, antwortet Marie.

Am nächsten Morgen ist die Mutter von Marie am Schultor. Etwas versteckt beobachtet sie wie Marie und Jule zur Schule kommen.  Tatsächlich. Am Seitentor ist eine lange Schlange von Kindern und sie alle warten geduldig bis sie an der Reihe sind. Am Eingang steht ein junger Mann und jedes der Kinder klatscht ihn mit der Hand ab, dann gibt es ein paar Worte und hinein geht es in die Schule. Die Mutter schleicht sich etwas näher. „Hallo Robbi.“ „Hallo Marie. Toll sehen deine Zöpfe aus, hast du die selber geflochten?“ „Meine Mama hat mir geholfen.“ Marie das wird ein toller Tag heute. Mach‘s gut.“ „Hallo Kevin. Bist du ein Stück gewachsen?“ „Ja, Robbie zwei Zentimeter, bald ich bin ich so groß wie du.“ „Kevin das wird ein toller Tag heute. Mach‘s gut.“ Und schon ist der nächste an der Reihe. Der junge Mann kennt alle Kinder mit Namen. Als endlich die Schlange zu Ende ist, tritt die Mutter von Marie auf ihn zu und fährt ihn an: „wie kommen sie dazu, jedes Kind mit einem Handschlag zu begrüßen? Warum sprechen sie mein Kind an?“

Der junge Mann wendet sich ihr zu. „Hallo. Ich heiße Robbie. Ich arbeite da drüben in der tollen Schreinerei. Als ich so klein war wie die Kinder da, begrüßten mich die anderen Kinder, wenn ich morgens auf den Schulhof kam, mit: Hallo du Mongo. Hau ab Behinderter. Ich hatte Angst vor der Schule, weil ich das Downsyndrom habe. Es hätte mir gut getan, wenn jemand mich freundlich begrüßt hätte, wenn ich an der Schule ankam. Eigentlich muss ich erst um 09.00 Uhr zur Arbeit, aber ich stehe jeden morgen extra früher auf, weil ich möchte, dass kein Kind zur Schule kommt, ohne dass es jemand freundlich begrüßt.“

Die Mutter von Marie erzählt der Klassenlehrerin von Robbi, und dass er die Ursache ist, dass Marie und Jule zu spät zum Unterricht kommen. Die Klassenlehrerin geht ins Lehrerzimmer und bespricht sich mit den Kollegen.

Am Schultor steht immer noch jeden Morgen Robbi. Immer noch ist da eine lange Schlange von Kindern. Aber auch an den anderen Toren ist jetzt eine Schlange. Überall steht eine Lehrerin oder ein Lehrer und begrüßt morgens die Kinder, die zur Schule kommen mit einem guten Wort.

 

Wir möchten Jesus sehen. Das Hungertuch zeigt uns einen Fuß, der gebrochen daliegt. Er kommt nur zum Stehen, er wird nur auf weiten Raum gestellt, wenn ihn jemand aufrichtet, wenn jemand sieht, da kommt einer nicht mehr auf die Füße.

Wie Jesus sind wir oft in unserem eigenen Tempelbezirk. Wir wissen zwar: es gibt da noch einen Bezirk für die Frauen, für die Heiden, für die Nichteuropäer, für die Kranken, für die Hungernden, aber so wirklich sehen wir sie nicht. Robbie hat am eigenen Leib erfahren was es bedeutet den Schultag nicht mit einem guten Wort, einem Zuspruch zu beginnen. Darum stellt er jeden Morgen die Kinder auf weiten Raum, mit einem guten Wort, mit einem Zuspruch. Ganz einfach.

Das Downsyndrom hat Robbi die Augen geöffnet für das was ein Kind braucht. Heute ist der Welt-Downsyndrom Tag.

Corona lässt uns erfahren in unserer Freiheit begrenzt zu sein. Corona lässt uns erleben auf ein Medikament, auf eine Impfung warten zu müssen. Das sind die Zeichen der Zeit, die wir übersetzen müssen. Corona schenkt uns ein Sehen, das unter die Haut geht. Corona ist wie Philippus und Andreas es dolmetscht die Not so vieler Menschen für uns. Corona macht uns sehend wo Füße nicht auf weiten Raum gestellt werden.

Das Weizenkorn muss sterben, damit es nicht allein und nutzlos bleibt. Corona lässt uns sehen, welche Blickwinkel, welche Sehgewohnheiten sterben müssen, damit wir sehen können, damit wir die Zeichen der Zeit lesen können, damit wir durch Corona Jesus sehen können. „Herr, wir möchten Jesus sehen.“ Amen.