Sonntagsbegegnungen 5

Zeitlos

Datum:
So. 2. Okt. 2022
Von:
Pfarrer Ronald Givens

Es beginnt mit einem Blick. Sie, die verkrümmte Frau, die nicht mehr den Blick heben kann, weil sie seit achtzehn Jahren zunehmend zu Boden blicken musste und Jesus, der sie sieht. Jesus sieht sie in der Synagoge beim Sabbatgottesdienst. Wie ihr, ist ihm der Sabbath heilig, beide feiern sie Gott. Er und sie sind gläubige Juden. Obwohl sie den Himmel nicht mehr in den Blick nehmen kann, zeigt ihr Mitfeiern des Sabbaths, dass sie den Himmel nicht aus dem Blick verloren hat. Diese Begegnung wurde möglich, weil diese zwei Menschen Gott, der Glaube an ihn und der Gottesdienst verbindet.

Jesus ruft sie. Zu sich. Wie wird er sie gerufen haben? Frau? Gekrümmte? Verkrümmte Frau? Woher wusste sie, dass sie gemeint ist? Sie hört seine Stimme und folgt ihm. Jetzt setzt sie sich den Blicken aller aus. Jesu ist nicht diskret. Er will, dass alle hinsehen. Nicht glotzen. Nicht starren. Nicht peinlich berührt wegsehen. Er will, dass sie zusehen, wenn der Himmel die Erde berührt.

Jesus berührt sie. Die Kranke. Die Frau. Ob in dieser Synagoge die Frauen und die Männer beim Gebet voneinander getrennt waren, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Sicher aber ist, dass ein frommer Jude keine Frau berührt. Es gehört sich nicht nur nicht, es macht ihn unrein. Sicher ist, dass ein Gottesfürchtiger keine Kranken berührt. Sie sind sichtbar von Gott gestraft. Darum ist die Berührung so wichtig in dieser Begegnung. Jesus schenkt dieser Frau Ansehen. Indem er sie sieht und ansieht. Indem alle sehen können, dass er ihr die Hände auflegt. Keine flüchtige Berührung, sondern eine bewusste, eine segnende, eine verwandelnde Berührung.

Für viele ist die Begegnung in einer Synagoge zwischen Jesus und einer Frau, die seit mehr als achtzehn Jahren nicht mehr aufrecht gehen konnte, ein Bild des Gerichtes Gottes. Die Auferstehungsbegegnung mit Gott nicht nur als ein Herausgeführtsein aus dem Grab und Tod, sondern auch eine Aufrichtung. Aufrichtig zum eigenen Leben stehen können. Aufrichten, was ich bei anderen und bei mir selbst niedergedrückt habe. Aufrecht stehen und aufrecht stehen lassen können, weil ich dem begegnet bin, der so aufrichtet, dass ich ganz und gar von dem Wunsch beseelt bin, diese alles verwandelnde Erfahrung soll mein ganzes Leben in all seinen Beziehungen ergreifen.

Herbert Grönemeyer

…Warum bin ich ein anderer Mensch?

Warum fehlt mir zu mir jeglicher Bezug? (jeglicher Bezug)

Lieg' ich nur falsch auf meinen fernen Routen?

Keiner sieht meine Fahne und kein Meer spürt meinen Bug

 

Fragst du dich auch, wenn dein Herz davonläuft

Fragst du dich auch, wenn der Boden sich verzieht

Ob du verkehrt bist, ob nur du dich bereust?

Warum gibt es dich? Warum singt keiner mit dir ein Lied?...

 

Die Begegnung mit der Frau, die seit achtzehn Jahren gekrümmt ist, ist eine Begegnung, die einlädt sich Zeit zu nehmen. Im Gottesdienst, in der Synagoge schaut Jesus hin und er lässt seinem Herzen Zeit das Wesentliche nicht zu übersehen. Er läßt seinen Händen Zeit bis sie spüren, dass der Himmel fließt, von ihm zu der Frau. Er läßt den anderen Zeit, dass sie aufsehen, hinsehen und einsehen. Diese heilende Begegnung wird möglich weil Jesus dieser Begegnung die Zeit schenkt, die sie braucht um aufrichtig zu sein.

 

Lukas 13: 10 Am Sabbat lehrte Jesus in einer Synagoge. 11 Und siehe, da war eine Frau, die seit achtzehn Jahren krank war, weil sie von einem Geist geplagt wurde; sie war ganz verkrümmt und konnte nicht mehr aufrecht gehen. 12 Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte: Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. 13 Und er legte ihr die Hände auf. Im gleichen Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott.