Sylt-5

verabschieden

Datum:
Sa. 23. Okt. 2021
Von:
Ronald Givens

Unser Zug fährt nicht. Am Bahnsteig organisieren wir um. Die Kinder können nicht verstehen, dass, wenn sie im Zug von ihrem Platz aufstehen, dieser anschließend weg ist. Weg gegangen, Platz vergangen. Da braucht es dann ein klares Wort, dass ein Kind auch ein Recht auf einen Platz hat.

Es ist anstrengend.

Umsteigen. Ab Hamburg sitzen wir in einem Zug, der fährt, aber wieder haben wir keine reservierten Plätze, weil unser Zug nicht fährt. Wir suchen Abteil für Abteil nach dunklen Stellen. Dort wo grün eine deutsche Stadt steht, ist kein Platz, nur wo es dunkel ist, besteht Hoffnung. „Was heißt ‚ggf. freigeben‘?“ will einer der Jungs wissen.

Still denke ich für mich, es heißt: ein mulmiges Gefühl. Einen Platz zu haben und doch nicht. Immer damit rechnen, aufstehen zu müssen, weil der Platz einem nicht zusteht. Natürlich kann ich das verstehen. Wir hatten ja auch reservierte Plätze. Es macht mich dennoch nachdenklich.

In Hamburg stehen Demonstranten auf dem Bahnsteig. Sie halten Pappschilder hoch. Auf einem steht: Auch in Libyen gilt die Würde des Menschen.

So ist das also, wenn man um Asyl ansucht. Dann steht über dem Platz, den man gefunden hat: ,ggf. freigeben‘.

Gestern Abend sind wir zum Verabschieden vom Meer nochmals an den Strand gegangen. Es war ein Wagnis. Der Sturm peitscht Wolkenlücken mit hellblauen Sonneneinbrüchen über die Flutwasser, um gleich darauf eine schwarze Wolkenfaust uns entgegenzutreiben, die nichts und niemand trocken lässt.

Der Strand kündigt sich an. Sandkörner stechen und piksen ins Gesicht, sind schmerzhaft. Rückwärtsgehen hilft. Dann ist es da. Das Meer. Es tost und tanzt, es schreit und zischt. Darüber eine Abendsonne, die sich durch Wolkenbänder bricht. Orange. Lila. Schwarz. Blau. Grün. Gold. Weiß. Grau. Blau. Der Sturm zwingt dazu die Natur mit dem ganzen Körper zu erleben. Nur anschauen geht nicht. Der Zuschauerplatz muss ertrotzt werden, gegen Sandsturm, Gischt und Wasser. Die Kinder und Jugendlichen sind überwältigt. Eine sagt: So sieht es aus, wenn Gott kommt.

Auf dem Rückweg zahlen wir unseren Tribut für so viel Schönheit. Der Sturm schickt Hagel. Von hinten, unbarmherzig. Es dauert nur ein paar Minuten, aber wir sind klatschnaß. Es schmerzt. Die Hagelkörner tun weh, es ist kalt, an den Rändern des Weges liegen sie wie Schnee. So viele Heizkörper hat die Jugendherberge nicht um das alles zu trocknen. Dennoch. Es war schön.

Ihr

Pfarrer Ronald Ashley Givens