Weggefährte

Predigt am Dreifaltigkeitssonntag

Datum:
So. 7. Juni 2020
Von:
Pfarrer Ronald Givens

Liebe Schwestern und Brüder,

 

noch nie habe ich so viele Menschen wandern, joggen oder spazieren gehen gesehen. Ehepaare, Familien, Freunde hatten Zeit um miteinander über die Felder zu gehen, durch den Wald, waren gemeinsam unterwegs.

Auch Mose bricht auf. Zu einer Bergtour. Sehr früh am Morgen. Niemand begleitet ihn. Wer hätte ihn auch auf den Berg begleiten sollen? Sein Bruder Aaron? Der hatte ja die verrückte Idee ein Goldenes Kalb zu gießen. Seine Schwester Mirijam? Die hatte nichts besseres zu tun gehabt, als dem Volk den Tanz um das Goldene Kalb beizubringen. Die Ältesten, die Jahwe ewige Treue geschworen hatten? Sie waren die ersten gewesen, die das Gold gesammelt hatten, weil sie nicht mehr warten wollten, bis Mose wieder vom Sinai herabkam.

Mose steigt allein hinauf auf den Berg. Vielleicht kann er die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk retten. Der Weg im Sinai Gebirge ist anstrengend. Schatten gibt es nicht. Mose wird gestapft sein. Schritt für Schritt.

Eine gute Freundin hat mir einmal gesagt, dass es Wege gibt, die muss man stapfen. Geduldig einen Schritt vor den anderen. Stapf, Stapf. Es sind die Wege, die man nicht versteht, die mühsam sind oder die man eigentlich nicht gehen will. Es geht nur noch ums Durchalten, Treubleiben, Verantwortlich sein. Stapf. Stapf.

Irgendwo auf diesem Weg hinauf zum Gipfel, in diesem zerklüfteten Felsgestein, hält Mose inne. Richtet sich auf. Streckt sich. Vielleicht schaut er hinunter ins Lager, wo das Goldene Kalb umgestürzt daliegt. Er sieht die im Zorn zerschmetterten Gesetzestafeln, die Zelte seines Volkes, das den Bund mit Jahwe gebrochen hat, kaum dass er geschlossen war. Vielleicht hat er auch hinaufgeschaut. Nach oben. Wie wird die Begegnung mit Gott sein? Was erwartet mich? Wird Gott einen Zorn haben?

Mose wird einen Schluck Wasser aus dem Ziegenschlauch genommen haben. Da tritt Jahwe neben ihn. Er stellt sich an die Seite von Mose. Völlig unspektakulär. So wie ein anderer Wanderer, wie ein Freund, wie ein Gefährte.

Bei der vorhergehenden Begegnung hat es gedonnert und gekracht. Gott sprach aus einer Wolke mit ihm. Beim ersten Mal, war es ein brennender Dornbusch und Mose musste ehrfurchtsvoll die Schuhe ausziehen. Diesmal ist es überraschend anders. Gott stellt sich neben Mose. Nicht von oben herab, nicht im harten Gegenüber, sondern so, wie wenn wir miteinander spazieren gehen oder wandern. Beide schauen in dieselbe Richtung. Beide halten inne.

Schaut der Mensch Mose, den Berg hinunter, den Weg zurück, sieht er, dass vieles von dem, was er aufgebaut und angeführt hat, vergeblich war. Dafür braucht er jetzt einen,  der zu ihm zur Seite steht, der ohne Worte Nähe schenkt. Der Prophet und Glaubende Mose, der, wenn er hinaufschaut, nicht weiss, ob er noch mit Gott Kontakt hat, ob Gott ihm noch einmal zuhört, er braucht jetzt einen, der die Hoffnung wieder anfacht, der mit ihm nach vorne schaut.

Kein Wort über das Goldene Kalb. Kein Wort über die gebrochene Treue. Zu was auch? Mose weiß das ja alles. Deswegen ist er hinaufgestiegen. Mit jedem Stapfen wird er überlegt haben: wie soll ich das erklären, wie biege ich das hin? Gott ist kein Wundenaufreißer. Das machen wir selbst schon genug, in die eigenen oder in die fremden Wunden Salz zu streuen. Daher sagt Gott: ich bin immer noch der Herr. Mach dir da mal keine Sorgen. Der Herr ist der Herr. Auch mein Wesen hat sich nicht geändert: ich bin barmherzig, ich bin gnädig, ich bin langmütig, ich bin treu.

Da geht Mose in die Knie. Nicht weil Gott ihn klein gemacht hat, sondern weil Mose mit dieser Geste zeigen möchte, das ist mir heilig, das ist mir kostbar, davor habe ich Ehrfurcht.

Überall auf der Welt gehen im Moment Menschen in die Knie. Sie zeigen damit, dass sie Ehrfurcht vor der Menschenschwester und dem Menschenbruder haben, weil das Leben, weil jedes Leben heilig und kostbar ist.

Gott, sein Herz, hat an diesem Morgen gespürt, was dieser einsame Mensch Mose dort oben auf dem Berg wirklich braucht: einen der ihm zur Seite steht, der die Einsamkeit des Weges mit ihm teilt. Einen, der ihm hilft sich daran zu erinnern und zu glauben, was ihm heilig und wichtig ist: dass der Gott, barmherzig, gnädig, langmütig und vor allem treu ist.

In den letzten Wochen haben wir alle überdeutlich gespürt, wie sehr jeder von uns ein Sakrament Gottes ist. Mit einem Mal ist uns ganz neu aufgegangen, wie heilend unsere Nähe war, wie kostbar ein Wort ist, wie verbindend ein gemeinsamer Weg oder Spaziergang ist. Auch wenn wir im Gottesdienst auf Abstand sitzen, haben wir noch nie so viel Nähe einander gezeigt, wie jetzt, wo wir erfahren haben, dass nichts den Menschen ersetzen kann, der mit uns glaubt, der mit uns Ausschau hält, nach einem Gott, der Menschen aufrichtet. Und wir sehen in diesen Tagen Bilder, dass Menschen ihre Knie beugen, weil sie Zeugnis davon geben, dass ein jeder Mensch heilig ist.

Der Herr ist der Herr. Er ist gnädig, barmherzig, langmütig und treu.

Der Mensch ist der Mensch Die Würde unseres Menschseins besteht darin, einander so Nähe zu schenken, dass wir Weggefährten sind. Der Mensch als Sakrament Gottes für den Mitmenschen. Nicht als Tanz um das goldene Kalb, sondern mit einem gebeugten Knie, vor der Schönheit und der Würde eines jeden Menschen, in jeder Phase seines Lebens. Amen.

 

Ex 34, 4b.5–6.8–9

Lesung aus dem Buch Exodus.

 

In jenen Tagen stand Mose früh am Morgen auf und ging auf den Sínai hinauf, wie es ihm der Herr aufgetragen hatte. Der Herr aber stieg in der Wolke herab und stellte sich dort neben ihn hin. Er rief den Namen des Herrn aus. Der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Der Herr ist der Herr, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue: Sofort verneigte sich Mose bis zur Erde und warf sich zu Boden.

 Er sagte: Wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, mein Herr, dann ziehe doch, mein Herr, in unserer Mitte! Weil es ein hartnäckiges Volk ist, musst du uns unsere Schuld und Sünde vergeben und uns dein Eigentum sein lassen!