Wir werden ver-rückt

Sonntagspredigt von Pfarrer Givens

Datum:
Mo. 16. Okt. 2023
Von:
Herbert Kohl

Als Josef von Arimathäa und der Ratsherr Nikodemus, Jesus vom Kreuz abgenommen und ins Grab gelegt haben, da haben Sie, nicht ganz so feierlich wie der Kaddisch im Tempel zu Jerusalem, aber da haben Sie über dem toten Jesus genau dieses Gebet, das wir gerade eben gehört haben, den Kaddisch gebetet. Und wenn wir unsere Toten bestatten, dann ist unsere Totenliturgie der Kaddisch, wenn wir das erste Seelenamt feiern, dann tun wir das, weil die Juden ihre Toten ehren und nicht vergessen und den Kaddisch beten. Bis 1934 haben die Frauen und Männer hier in Viernheim, die ihre Toten beerdigt haben, dort in der Hügelstraße, den Kaddisch gebetet, das jüdische Totengebet. Da hat sich nichts geändert, seit dem Begräbnis Jesu und dem heute.

Und dort oben an den Säulen in bunten Gewändern, stehen lauter Juden, das sind einer nach dem anderen Juden. Und der Engel des Herr, der Maria die Botschaft brachte, der sprach so, dass eine Jüdin den Engel verstehen konnte und der, den wir dort im Hochaltar, im Kreuz haben und dessen Kreuz wir hineingetragen haben, er war und er ist Jude. Und der Altar, den wir hier haben in der Mitte ist undenkbar, ohne den Altar im Tempel zu Jerusalem. Und das Mahl, dass wir heute Morgen hier am Sonntag feiern, das ist ein jüdisches Mahl, das ist jüdische Liturgie, und das Vater Unser, das wir nachher beten, das ist ein Judengebet. Wir sind und wir bleiben Geschwister Jesu, wir sind und wir bleiben Juden, denn unser Gott ist Jahwe, unser Gott ist Adonai, unser Gott ist Elohim. Uns unterscheidet nur das eine, das wir im Juden Jesus von Nazareth, den Messias erkannt haben, aber wir beten wie Juden, wir feiern wie Juden, wir haben die zehn Gebote wie Juden, wir leben den Nächsten wie Juden und wir haben das Glück, dass wir heute Morgen nachdenken dürfen, denn keine und keiner von uns muss morgen einen grünen Drillich anziehen, ein Maschinengewehr in die Hand nehmen und den Gazastreifen einmarschieren. Wir müssen nicht handeln und keine und keiner von uns muss eine Regierungsmaschine besteigen und nach Israel fliegen und als Politiker Worte finden, die immer falsch sind. Wir können noch nachdenken, wir müssen nicht handeln und keine und keiner von uns muss heute Morgen überlegen, was nehme ich für meine Kinder mit in den Süden vom Gazastreifen. Was pack ich ein, von dem, was mein zuhause ist? Keine und keiner von uns muss fliehen, wir alle können noch nachdenken, denn es ist verrückt, es hat sich etwas verrückt, es ist verrückte Zeit, es sind aus Gedanken Worte geworden und an ganz vielen Orten mittlerweile aus Worten Taten, weil die, die die Worte gesprochen haben, die, die Gedanken zuvor in dem Herzen bewegt haben, die, die den Worten nicht widersprochen haben, nicht gemerkt haben, wie verrückt diese Worte sind, wie verrückt sich das Reden, wie verrückt sich, die die Politik machen, gebärden und 24 Prozent bei uns haben geglaubt am letzten Sonntag, die Worte der AfD sind nicht so schlimm, die sind vielleicht ein bisschen verrückt, aber die sollen denen zeigen, die da oben sind, was wir wollen. Wollen wir wirklich, von denen, die das Sprechen bei uns schon so ver-rückt haben, auch noch die Taten bekommen?

Europa ist verrückt, in Polen wird eine Regierung um die Macht kämpfen an diesem Sonntag, die das deutsch-polnische Verhältnis ver-rückt hat, die seit Jahren damit lebt, Feindbilder aufzubauen, um die Dinge zu verrücken, erst gegen alle Homosexuellen, dann gegen die Frauen und jetzt gegen die Deutschen. In Ungarn ist einer der die Rechtsstaatlichkeit, der die Anständigkeit verrückt hat.

In Frankreich ist eine, die Europa am liebsten ver-rücken würde, ganz nach rechts. In Italien ist eine, die das Bewusstsein ver-rückt hat, dass man nicht mehr anknüpft an den Faschismus und wir wählen nächstes Jahr in Europa, womöglich all diejenigen die Europa ver-rücken möchten, dorthin, wo die, die ganz bewusst damit arbeiten, Sprache zu verrücken, Menschlichkeit zu verrücken, würde zu ver-rücken, gerne uns hätten, als ver-rückte, damit sie bestimmen können, wer durch dieses Verrücken seinen Platz verloren hat in unserer Mitte.

Wir haben die Zeit noch nachzudenken, keine und keiner von uns muss handeln. Wir haben noch das Privileg nachzudenken, hat sich in meinem Denken etwas verrückt? Wie denke, ich über Fremde, wie denke ich über Flüchtlinge, wie denke ich über Juden, wie denke ich über Muslime, wie denke ich über meinen Nächsten? Hat sich da etwas verrückt, habe ich mich verrücken lassen von denen, die es darauf anlegen, Sprache, Gesellschaft, Denken zu verrücken, ganz weit nach rechts? Noch haben wir die Zeit nachzudenken, hat sich etwas bei mir verrückt in meinem Handeln, in meinem Schauen, in meinem Nächsten Lieben? Denn in Israel haben sie keine Zeit mehr. Sie müssen handeln, von denen gezwungen, die alles verrückt haben. Im Gazastreifen haben sie keine Zeit mehr zum Nachdenken, sie müssen handeln, weil die Grenzen, weil  der Anstand verrückt worden ist. 1933 haben all diejenigen bei uns, die geschrien haben, Heil, spätestens 1934 gemerkt, dass keine Zeit mehr ist zum Nachdenken. Das sind die Söhne, das sind die Brüder, das sind die Väter, in Wehrmachtsuniformen gesteckt worden und mussten handeln, von denen, die zuvor die Sprache verrückt haben, das Menschenbild verrückt haben, den Himmel verrückt haben. Wir haben hier und wir haben in Europa noch das große Privileg nachdenken zu dürfen, ob wir uns verrücken lassen wollen. Ich wünsche uns, dass wir, wie Josef von Arimatthäa und Nikodemus , die beide sich geschämt haben, als Jesus noch gelebt hat, sich zu ihm zu bekennen, öffentlich mit ihm gesehen zu werden, die beide am Karfreitag gemerkt, haben, hat sich was in meiner Liebe, hat sich etwas in meinem Glauben, da hat sich etwas in meinem Jude sein verrückt, das möchte ich nicht. Die am späten Nachmittag des Karfreitags ans Kreuz gegangen sind und aller Welt gezeigt haben, ich lasse mich nicht verrücken. Ich bete den Kaddisch für meinen Freund Jesus, auch wenn die hohen Priester das Sehen, auch wenn die Soldaten des Pilatus das Sehen, auch wenn alle anderen im Volk das Sehen. Ich habe mich viel zu lange verrücken lassen. Jose von Arimathäa und Nikodemus haben am Karfreitag verstanden, dass es damit beginnt, dass man innerlich ver-rückt wird und dass ein Volk, dass eine Familie, dass eine Nation und eine Gesellschaft verloren ist, wenn sie sich von denen beherrschen lässt, die uns ver-rücken, die die Welt verrückt machen, Amen.