Als Kirche stehen wir aus gutem Grund für eine Position, die verbindliche Grundlagen vertritt.

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf am 2. Weihnachtstag 2018 (Fest des heiligen Stephanus) Sankt Quintin Mainz, 26. Dezember

Texttafel Predigt 26 Dezember (c) pixabay.com
Datum:
Mi. 26. Dez. 2018
Von:
Bischof Peter Kohlgraf
In Gesprächen berichten mir gerade in den vergangenen Monaten engagierte Katholiken, dass sie bei Angehörigen, Freunden und Kollegen Unverständnis und Ablehnung erfahren, wenn sie sich zu ihrem katholischen Glauben bekennen und sich darüber hinaus auch noch für die Kirche engagieren. Die Gründe für die zunehmende Ablehnung der Kirche sind sicher vielfältig, aber natürlich spielen auch die ans Licht getretenen Verbrechen der Verantwortlichen in der Kirche eine wesentliche Rolle.

Allerdings lässt sich auch schon vor den Enthüllungen der Taten vor 2010 eine zunehmende Entfremdung breiter Teile unserer Gesellschaft von der Kirche feststellen. Für viele, die dann endgültig den Bruch mit der Kirche vollzogen haben, waren die Taten in der Kirche nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Vor einigen Tagen verstarb der katholische Philosoph Robert Spaemann, der sich in vielen Fragen von Kirche und Gesellschaft kritisch zu Wort meldete. Nicht alles muss man teilen, aber seine Anfragen sind nie völlig abwegig. Im Jahr 2009 beschäftigte er sich mit dem Phänomen unserer Gesellschaft und ihrer Vorstellung von Toleranz. Tolerant bedeutet laut Duden „Duldsam, nachsichtig, weitherzig“[1]. Spaemann bemerkte damals dazu, dass er eine solche Weitherzigkeit gegenüber von der Mehrheit abweichenden Meinungen nicht feststellen könne. Und sicher müssen wir heute erleben, dass der Ton insgesamt rauer geworden ist. Auch die Duldsamkeit gegenüber christlichen und katholischen Positionen ist begrenzt. Spaemann spricht davon, dass auch unsere moderne Gesellschaft wieder verstärkt Exkommunikationen kenne. Vertrete jemand etwa, auch ohne verurteilend oder fanatisch aufzutreten, die katholische Position zum Lebensschutz Ungeborener oder Schwerkranker, finde er sich schnell in der Beurteilung als weltfremd und übergriffig wieder. Der Philosoph erkennt einen radikalen Relativismus, der jede endgültige Wahrheit, die alle Menschen binden kann, verneint. Wer genau hinhört, hört Töne, die auch Papst Benedikt XVI. immer wieder angeschlagen hat. Wahr ist demnach das, was der einzelne Mensch als wahr empfindet. Und das kann bei jedem Menschen anders sein. Verbindlich ist dann, was die Mehrheit denkt und beschließt. Die Mehrheit bildet jedoch nicht zwangsläufig die Wahrheit ab. Und eine Sache oder Meinung erweist sich in der Gesellschaft auch nicht durch die Lautstärke als wahr, mit der bestimmte Meinungen vertreten werden. Als Kirche stehen wir aus gutem Grund für eine Position, die verbindliche Grundlagen vertritt.

Ob es heute tatsächlich in breiten Teilen der Bevölkerung einen derartigen radikalen Relativismus gibt, der nichts Verbindliches anerkennt, kann man fragen. Aber natürlich können wir wahrnehmen, dass viele bisherigen Sicherheiten und bisher selbstverständlich Anerkanntes zur Disposition stehen. Die Kirche setzt nun ein Menschenbild voraus, das bestimmte Grundrechte nicht zur Verfügung stellt. Das Lebensrecht Ungeborener und schwer kranker Menschen darf nicht gefährdet sein. Dabei wird die Kirche kleiner, sie muss ihre Position heute gut begründen, und sie wird einen Stil finden müssen, der ebenfalls Andersdenkende nicht exkommuniziert. Wirkliche Toleranz im Sinne von Duldsamkeit, Weitherzigkeit und Nachsicht muss auch die Kirche immer wieder lernen. Wir bewegen uns als Kirche hoffentlich zwischen einem Relativismus, der keine verbindlichen Hilfen anbieten will, und einem Fundamentalismus, der jeden Andersdenkenden niedermacht. Bei unserer Suche nach Wahrheit können wir die Erfahrung nicht ausschließen, dass wir auch von einer pluralen Gesellschaft lernen können. Vorausgesetzt ist die Suche nach einer Wahrheit, bei der wir als Christen den Glauben, unser Menschenbild und den großen Erfahrungsschatz der Tradition einbringen können. In unserer Gesellschaft stehen wir sicher heute vor der großen Aufgabe, Vielfalt zu leben, tolerant miteinander umzugehen und dennoch als Christen für eine Überzeugung zu stehen, auch dann, wenn sie nicht mehrheitsfähig ist.

Die Zeitgenossen des Stephanus staunen über seine Weisheit und den Geist, der aus seinen Worten und seiner Haltung spricht. Als es um den Glauben an Christus geht, sind sie mit ihrer Toleranz am Ende. Seine Situation ist mit unserer und der Situation vieler Christen in der Welt nicht vergleichbar. Aber er möge uns heute helfen, mit Weisheit auf diese Welt zu schauen, genau wahrzunehmen, gut zu begründen, was uns wichtig ist, mit weitem Herzen und Nachsicht, aber mit einer klaren Botschaft, der Botschaft von Gottes Liebe und der Würde des Menschen, der sein Ebenbild ist.

[1] Vgl. zum Folgenden Pro. Christliches Medienmagazin v. 17.2.2009 (www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/gesellschaft/2009/02/17 , Abruf am 14.12.2018.