Die persönliche Glaubwürdigkeit bleibt die wichtigste Voraussetzung für die Verkündigung der frohen Botschaft

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf am 2. Weihnachtstag 2020 
(Fest des heiligen Stephanus) Sankt Quintin Mainz, 26. Dezember 2020, 10.00 Uhr

Quartiergottesdienst an Weihnachten in Zornheim (c) Bistum Mainz
Datum:
Sa. 26. Dez. 2020
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

„Die letzten Christen“ heißt ein Buch von Andreas Knapp über die Situation der christlichen Gemeinden im Nahen Osten. Die im Erscheinungsjahr des Buches 2016 furchtbare Situation hat sich nicht gebessert, ganz im Gegenteil. Christliche orientalische Kirchen mit einer großen Tradition haben sich fast zur Gänze aufgelöst, die Mitglieder der Gemeinden haben sich in alle Welt zerstreut, wie die Zukunft aussieht, weiß Gott allein.

Bürgerkriege und der islamistische Terror haben ihnen das Leben in ihrer Heimat unmöglich gemacht. In dem Buch kommt auch ein Bischof zu Wort, der das Gebiet seiner Diözese verloren hat. Er berichtet von dem Schrecken des religiösen Fanatismus, der neben den Christen auch viele Muslime in die Katastrophe geführt hat, die sich den Fanatikern nicht anschließen wollten. Bei den Menschen beider Religionen, die geblieben sind, ist ein starkes Misstrauen entstanden, jahrhundertelange Beziehungen, ja Freundschaften, sind zerstört. Die meisten Christen und Christinnen haben die Orte in eine ungewisse Zukunft verlassen, andere leben in dieser Atmosphäre des Misstrauens, des Hasses und der ständig drohenden Gewalt, die auch nach der militärischen Zerschlagung des sogenannten „Islamischen Staates“ geblieben ist.

Viele der Geflüchteten leben in Europa, in unserer Nachbarschaft. Es sind diese „letzten“ Christen, die nun auch bei uns eine Zukunft und eine Gemeinde aufbauen. Es würde eine Bereicherung sein, sie besser kennenzulernen. Sie bringen eine reiche Tradition und einen oft starken Glauben mit. Sie kämpfen um Versöhnung auch mit ihren Gegnern und Verfolgern. Ich versuche, mich in sie hinein zu versetzen. Sie kommen in eine Welt, in der die Kirche nicht verfolgt wird und nicht in ständiger Rechtsunsicherheit leben muss. Sie kommen in eine Welt, in der es auch die „letzten Christen“ geben wird, in der die „letzten Christen“ aus einem anderen Grund zu einer immer kleineren Gruppe werden. Sicher hat das unterschiedliche Gründe. Der Zusammenhang zwischen unserer Kultur und der christlichen Tradition ist weitgehend zerbrochen. Die Aufklärung hat den Menschen zum eigenen Denken ermutigt, und auch unser Christentum tut gut daran, Glauben und Vernunft zu verbinden. Wir können nicht mehr nur auf Dogmen setzen, die geglaubt werden müssen. Die christliche Tradition hat sich dem vernünftigen und kritischen Gespräch zu stellen. Insofern ist auch der Prozess der Säkularisierung nicht aufzuhalten. Ich will das grundsätzlich nicht nur negativ bewerten. Denn es tut der Kirche und ihrer Verkündigung gut, den Kern unserer Botschaft überzeugend und aktuell verkündigen zu müssen und uns nicht auf bloße Formeln zurückzuziehen, die es zu glauben gilt. Ich weiß sehr gut: Auch die Verantwortlichen in der Kirche sind nicht unschuldig daran, dass Christsein an Attraktivität verloren hat und weiter verliert. Die persönliche Glaubwürdigkeit bleibt die wichtigste Voraussetzung für die Verkündigung der frohen Botschaft. „Letzte Christen“ werden wir, auch das darf man ohne Vorwurf sagen, wegen einer schwächer werdenden Bindung an Kirche und Glaube. Menschen verlassen die Kirche aus unterschiedlichen Gründen. Viele wegen persönlich verletzender Erfahrungen, bei anderen ist die Bindung an die Kirche und auch an den Glauben nach und nach eingeschlafen. Sie verlassen die Kirche, was dann folgerichtig ist. Ihr Weggehen hat spürbare Konsequenzen im Hinblick auf unsere kirchliche Präsenz in der Gesellschaft, auch im Bistum Mainz.

Wir erleben derartige öffentliche Folgen derzeit schmerzlich. Ich habe aufmerksam die Berichterstattung der letzten Tage über die öffentlichen Gottesdienste an Weihnachten verfolgt und auch die Kommentare in den sogenannten sozialen Netzwerken gelesen. Dass die Hälfte der Deutschen die Präsenzgottesdienste nun ablehnen, hat bei nicht wenigen wohl nicht in erster Linie mit der Pandemie zu tun, sondern mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Kirche. Der Ton ist oft hämisch bis aggressiv, wenn auch nicht bei allen. Insofern sagt die statistische Zahl 50% inhaltlich nur wenig. Viele Deutsche würden die Kirche nicht vermissen. Zumindest die Gottesdienste nicht. Sie würden sich vielleicht wundern, wie sehr sich unsere Gesellschaft verändern würde, wenn es die vielen Engagierten in der Kirche und zahlreiche Angebote nicht mehr gäbe. „Letzte Christen“ werden wir nicht im Sinne der Christinnen und Christen im Nahen Osten, die hier als Beispiel für die Situation vieler in dieser Zeit gelten können. Wir verlieren unsere Wurzeln, während für diese Menschen der Glaube oft der letzte Halt und ihr tragfähiges Fundament bleibt. Wir sollten uns ihr Lebens- und Glaubensbeispiel gut anschauen.

Der Philosoph Peter Sloterdijk1 hat gerade ein Buch veröffentlicht, das sich mit der Zukunft der Religion beschäftigt („Den Himmel zum Sprechen bringen“). Religion bedeutet für ihn ein poetisches Sprachspiel. Die Tatsache, dass es Gott nicht gibt, müsse er nicht belegen. Das müsse für vernünftige Menschen klar sein. Grundsätzlich steht er der Religion nicht feindlich gegenüber, hat sie doch den Mühseligen und Armen Hoffnung geben können. Daher plädiert er auch nicht für die Abschaffung (Wie soll das auch gehen?), sondern für eine spöttische Wertschätzung als faszinierendem Relikt aus der Vergangenheit. Sie wird sich dann wohl von selbst erledigen. Gott stirbt mit den „letzten Christen“, die seine und ihre eigene Nutzlosigkeit erkennen – sozusagen. Drei kurze Bemerkungen dazu: Wie würden diese von oben herab urteilende Bewertung wohl unsere Schwestern und Brüder aus dem Nahen Osten lesen? Würde der Philosoph denen das ins Gesicht sagen? Und unterschätzt er nicht das Faktum des Wachsens der Religionen weltweit? Dass Religionen totgesagt wurden, ist nichts Neues, weltweit gilt das nicht. Wenn wir hier nicht zu den „letzten Christen“ werden wollen, sollten wir ihn eines Besseren belehren. Wir sollten aus unseren großen christlichen Quellen freimütig schöpfen, und uns dankbar unserer Wurzeln erinnern, und sie immer wieder zum Blühen bringen. Ich bin davon überzeugt, dass Gott uns auch hierzulande die Kraft schenkt, eine lebendige Gemeinschaft des Glaubens zu sein, und nicht das letzte Aufgebot. Mögen unsere Schwestern und Brüder weltweit unseren Horizont weiten und uns Mut machen zu einem lebendigen und auch hoffnungsvollen Glauben, und dies in der Gemeinschaft einer oft so menschlich-schwachen Kirche.

1Dazu Daniel Kehlmann, Was bleibt von der Religion?, in: NZZ vom 18.12.2020.