Egal, was ich tue, es ist nie meine Privatsache

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf am Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Gottesmutter (Seminarfeiertag) Augustinerkirche Mainz, Mittwoch, 8. Dezember

Bischof Peter Kohlgraf (c) Bistum Mainz
Datum:
Mi. 8. Dez. 2021
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

So wie durch einen Menschen – Adam – der Tod gekommen ist, so kommt durch einen Menschen –Christus – das Leben. 

Egal, was ich tue, es ist nie meine Privatsache. Egal, was ich tue, ich präge damit die Welt, positiv oder negativ. Selbst Gedanken, die in meinem Kopf verborgen sind, prägen Atmosphäre, bleiben so nicht bei mir. 

Bis heute beschäftigt uns die augustinische Deutung und gewissermaßen Engführung der Erbsündenlehre. Allerdings: die Wirklichkeit des Bösen in unserer Welt können wir nicht kleinreden. Es gibt die Neigung zum Bösen der Menschen und den Zusammenhang des Bösen in unserer Welt. Aber es gilt auch: So wie es die Erbschuld gibt, gibt es auch das „Erb-Gut“. Die Neigung und die Möglichkeiten zum Guten, die unsere Welt prägen. Gutes wie Böses prägt Geschichte, Umwelt und Gesellschaft. Unser Denken und Handeln ist nie nur privat, sondern gesellschaftlich. 

Seit meiner Diplomarbeit über das ägyptische Mönchtum beschäftigt mich eine kleine unscheinbare Tatsache, die Geschichte geschrieben hat. Bis heute prägt sie unsere europäische Kultur und Geschichte: Um das Jahr 300 liegt ein verwundeter ägyptischer Soldat am Ufer des Nils in römischer Gefangenschaft. Eines Tages beobachtet er Leute aus den kleinen Dörfern, die zu ihm und seinen Kameraden kommen und ihnen Nahrung und Medizin bringen und ihnen damit ihre Situation wesentlich erträglicher machen. Mit diesem kleinen Ereignis wird eine Kultur eröffnet. Denn dieser verwundete Soldat erholt sich, er erfährt, dass die Wohltäter sogenannte Christen seien. Als er gesund ist, sucht er sie auf und schließt sich ihnen an. Aus dem Soldaten wird ein Christ, und später ein Einsiedler, dem sich nach und nach Hunderte von anderen Mönchen anschließen. Am Ende seines Lebens leben einige Tausend Mönche in zahlreichen Klöstern am Ufer des Nil, und Pachomius, so der Name des Ägypters, muss ihnen eine Regel geben, die erste schriftliche christliche Klosterregel. Als er diese Regel schreibt, erinnert er sich wohl an die christliche Nächstenliebe am Anfang seines Christseins, als er verwundet und arm daniederlag. Er nimmt in seine Regel einen Auftrag an seine Mitbrüder hinein: Jeden Armen und jeden Kranken so zu behandeln, als sei es Christus selbst, der an die Tür klopft. Diese Klöster sind die ersten organisierten Einrichtungen christlicher Caritas. Aus den Quellen wissen wir, dass jeden Tag Tausende von Menschen dort versorgt wurden, dass es Krankenstationen gab, dass zahllosen Menschen dort ein Überleben ermöglicht wurde. Innerhalb von ca. 50 Jahren ist eine Massenbewegung daraus geworden. 

Diese Regel lernt Jahrzehnte später ein Mann im italienischen Nursia kennen: Benedikt. Auch er lebt als Einsiedler und Mönch und hat eine Reihe von Gefährten um sich geschart. Als er die Regel des Ägypters liest, geht es ihm nicht nur darum, das Zusammenleben seiner Mitbrüder zu organisieren. Er ist fasziniert von dem Gedanken: Klöster sind Stätten der Gottes- und der Nächstenliebe. Innerhalb weniger Jahrzehnte und im Laufe der Jahrhunderte überziehen seine Klöster, die Benediktiner und Benediktinerinnen, ganz Europa. Sie sind Stätten der Kultur und der Bildung, aber immer auch Orte praktizierter Caritas. Benedikt gilt zu Recht als einer der Gründer unseres christlichen Europa. Das Christentum braucht sich nicht zu verstecken. 

Es ist geradezu ein Hohn, wenn heute gefordert wird, dass sich Nonnen, Mönche und Priester in staatlichen Schulen nicht mehr als solche zu erkennen geben sollen, um die religiösen Gefühle anderer nicht zu verletzen. Was wäre wohl aus dem verletzten Soldaten geworden, wenn er nicht die Christen erlebt hätte? Sicher hätte es auch später einen heiligen Benedikt gegeben, aber hätte er ohne seine ägyptischen Vorväter die Nächstenliebe in seiner Klosterregel verankert? Was wären wir heute ohne diese Vorfahren im Glauben? Eine einzige, unscheinbare Tat zieht Kreise, bis in unsere Zeit hinein. 

Paulus beschreibt die Kehrseite der Medaille. Da steht am Anfang der Menschheitsgeschichte eine böse Tat. Auch sie bleibt nicht im Verborgenen, auch sie prägt die Welt und die Menschen bis heute. Der Mensch will auf Kosten anderer leben, er will die Welt nicht als Geschenk, als Aufgabe, sondern als Beute. Die Bibel nennt diesen ersten Sünder Adam, „den Menschen“. Damit hat er eine Haltung in die Welt gebracht, die seitdem jeden Menschen von Kind an prägt: Ich will im Mittelpunkt stehen, ich will auf Kosten anderer leben. Die christliche Tradition nennt dies die Erbsünde, die in jedem Menschen steckt. Ein Begriff, der heute vielen zu Recht auch Schwierigkeiten bereitet. Dieses Kreisen um sich selbst, um die eignen Bedürfnisse, das Leben auf Kosten anderer prägen unsere Welt. Und jeder trägt seinen Teil dazu bei, ob er will oder nicht. Kein Mensch ohne solche Verwicklung in das Böse, in die Sünde. Bei der Taufe nun wird der Mensch von den Folgen dieser Erbsünde befreit, so kommt es in jedem Taufritus vor. Gerade bei Säuglingstaufen erschrecken die Eltern und Verwandten: Mein Kind hat doch keine Sünde. Das ist wahr, ein Kind ist bis rein und unschuldig. Aber es lebt in dieser Welt, die auch geprägt ist von dieser ersten Sünde. Und so schmerzlich es ist, auch in dem kleinen Kind steckt im Laufe der Entwicklung viel Gutes, aber eben auch der Hang zum Egoismus, ja, zur Sünde. Gott macht den Menschen offen für das Gute, für Beziehung, für Liebe. Das ist Erlösung. Darum geht es Jesus, als er bis ans Kreuz die Liebe lebt und uns bis heute mit seiner Liebe berührt. So wie die Sünde des Adam die Menschheit verletzt hat, so reicht die Liebe Christi bis ins Heute und prägt die Welt positiv bis heute. 

Nichts, was ich tue, ist meine Privatsache. Als Christen sollte es unser Bemühen sein, durch Gutes die Welt zu verwandeln. Die Geschichte zeigt, wie viel auch kleine Taten verändern können. Eine Frau, Maria, prägt die Welt bis heute positiv. Gott hat mit ihr eine neue Geschichte geschrieben. Mit einem Menschen beginnt etwas Neues. Dafür danken wir heute. Und wir danken für unsere Berufung. Dass jeder und jede die Welt verändern kann. Die Hingabe Christi durchdringt unsere Welt. Und wir sind gerufen, diese Hingabe zu leben.