Glaube als Wegerfahrung ist kein Privatbesitz, nichts für die stille Kammer allein.

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf bei der Messfeier am Ostermontag Mainz, Sankt Quintin, Ostermontag, 22. April 2019, 10.00 Uhr

Datum:
Mo. 22. Apr. 2019
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

In den vergangenen Tagen bewegten viele Menschen die Bilder der brennenden Kathedrale Notre Dame in Paris. Nachdem der Brand gelöscht werden konnte, gingen die Feuerwehrleute in den durch Feuer und Wasser zerstörten Innenraum. Das Bild von diesem Raumeindruck ging ebenfalls um die Welt. Über dem Altar hing das Kreuz, von der Sonne durch die kaputten Fenster beschienen. Ein mehr als beeindruckendes Bild, ein Bild starker österlicher Hoffnung in den Ruinen der Kirche.

Es hilft mir, die Situation der Jünger auf dem Weg nach Emmaus und die Situation der in Jerusalem zurückgebliebenen Männer und Frauen zu betrachten. Sie stehen tatsächlich vor den Ruinen ihres Lebens und ihres Glaubens. Sie formulieren gegenüber dem seltsamen Wanderer, der mit ihnen geht, was in ihnen vorgeht: „Wir aber hatten gehofft, dass er (Jesus) der sei, der Israel erlösen werde.“ Und der Hinweis auf den dritten Tag seit der Hinrichtung Jesu betont die Endgültigkeit. Menschen haben auf Jesus ihre ganze Hoffnung gesetzt, er sollte Israel erlösen. Ob sich dahinter die Hoffnung auf eine politische Befreiung verbarg? Oder der machtvolle Erweis, dass in großen und beeindruckenden Zeichen nun endlich für ganz Israel die Gottesherrschaft hereinbrechen würde? Und sie hätten gerne dabei mitgewirkt. Und nun: keine Erlösung, Jahre des Lebens weggeworfen. Dazu kommt die Trauer, denn sie waren Freunde gewesen. Ich vermag mir nicht vorzustellen, was in diesen Menschen vorgegangen ist, deren gesamter Lebensentwurf und deren Glaube in wenigen Tagen zerstört wurden und nun in Ruinen darniederliegen. Dem Evangelisten geht es nicht allein um eine historische Erinnerung, sondern er beschreibt Erfahrungen des Glaubens, die Jesus vielen Menschen schenken will.

Vertraue darauf, dass er lebt, sagt er uns. Diese umwerfende Erfahrung geben uns die Jünger von Emmaus weiter. Darin besteht der zentrale christliche Glaubensinhalt. Er lebt nicht sein irdisches Leben weiter. Auferweckung, Auferstehung ist das Hineingehen in eine unvorstellbare Lebensweise, ein Leben in Fülle, ein Leben in Gott, und doch in unvorstellbarer Nähe zu den Menschen. Paulus fasst diese Botschaft zusammen: „Wir verkünden, wie es in der Schrift steht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.“ (1 Kor 2,9). Gott ist ein lebendiger und lebensstiftender Gott, so lautet der österliche Glaube. Wie das leuchtende Kreuz in Notre Dame hoffe ich, dass mich und die vielen Menschen in der Nachfolge Jesu dieser Glaube immer begleiten und stärken mag, besonders in den Situationen, in denen alles am Boden zu sein scheint.

Er geht mit dir, er geht mit euch, wo immer zwei in seinem Namen unterwegs sind, sagt uns der Evangelist. Das Bild des Weges der zwei Jünger ist wohl nicht zufällig. Immer wieder sind Menschen unterwegs, und lernen Gott dabei als einen Gott des Weges besser kennen. Bischof Franz Kamphaus hat über die Erfahrung Gottes auf dem Weg einmal so geschrieben: „Der Gott Israels ist von seinen Ursprüngen her ein Weg-Gott, immer dabei auf den Wegen des Volkes und des Einzelnen. Seine Beweglichkeit ist Ausdruck seines Wesens, seiner Wegtreue und seiner Freiheit.“[1] Die Christen der ersten Stunde nennen sich selbst „Anhänger des neuen Weges.“ (Apg 9,2). In Jesus hat der Gott des Bundes ein Gesicht bekommen, in Jesus ist seine Lebenskraft greifbar geworden in der Auferweckung. Bei den Jüngern vom Emmaus wird der Weg von einer Flucht zu einem Weg der Verkündigung, des Zeugnisses und eines hoffnungsvollen Aufbruchs in eine neue Zukunft. Glaube verändert sich, entfaltet sich, in dem wir auf einem Weg bleiben: Damit verbinde ich Lebendigkeit  des Glaubens, aber auch, dass er als Zeugnis auf die Straße gehört. Glaube als Wegerfahrung ist kein Privatbesitz, nichts für die stille Kammer allein. „Bleibe bei uns, du Wandrer durch die Zeit“ (Gotteslob Nr. 325). Diese Bitte aus einem Osterlied nehme ich als meinen persönlichen Osterwunsch.

Auf dem Weg braucht es feste Haltepunkte, es braucht die Herbergen, sagt uns der Evangelist. Es braucht die heiligen Orte, Zeiten und Räume. „Der Weg ist nicht das Ziel“, betont Bischof Kamphaus in seiner Predigt. Die junge Kirche sieht wohl im Brechen des Brotes ein derartiges Zentrum, ohne das sich der Glaube zu verflüssigen droht. Das gilt für den Glauben in und mit der Kirche bis heute. Glaube kann nicht nur ein Tasten, Suchen und Fragen sein, so sehr er dies oft tatsächlich ist. Er kann nicht nur flüssig sein, es braucht auf dem Weg der einzelnen auch die gemeinsame Feier, in der wir uns beschenken lassen von seiner Gegenwart im Brot und im Wein. Hier hat der Glaube der vielen einzelnen sein Zentrum. Es ist ein Glaube, den wir uns nicht machen, sondern der ein Geschenk ist, denn er lebt aus der Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen. Die Verpflichtung zur Sonntagsmesse, die in der katholischen Kirche gilt, ist daher keine Schikane. Dahinter steht eine Sorge um den Glauben des einzelnen Menschen. Dahinter liegt die bis in die frühe Gemeinde zurückgehende Erfahrung, dass ein nur im Privaten und in der persönlichen Suche gelebter Glaube ohne den festen Ankerpunkt der in der Gemeinde gefeierten Eucharistie buchstäblich seinen Halt verliert und auf der Strecke bleibt. Denn es ist Christus selbst, der sich verschenkt. Unsere Gottesdienste besonders am Sonntag sollten neu als derartige lebensnotwendige Herbergen verstanden werden. Es ist die verantwortungsvolle Aufgabe unserer Priester und Seelsorgerinnen und Seelsorger, dass diese Begegnungen mit dem Herrn das Herz auch zum Brennen bringen können.

Lerne mit anderen, das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu neu und tiefer zu verstehen. Die Jünger sprechen auf dem Weg über ihre Erfahrungen mit Jesus. Ich erlebe oft eine Hilflosigkeit in den Fragen religiöser Kommunikation. Eltern trauen sich oft nicht, mit den Kindern über den Glauben zu sprechen, berichten unsere Erzieherinnen in den Kindertageseinrichtungen. Erwachsene sprechen über alles Mögliche, es gibt beinahe keine Tabus. Eines der letzten großen Tabus bleiben der persönliche Glaube und die persönliche Glaubenserfahrung. Im Hören auf den anderen, im Teilen der Erfahrungen entfaltet sich der eigene Glaube. Wir nehmen ihm durch das Schweigen in Glaubensthemen eine große Chance der Entfaltung und Entwicklung. Es wäre mein großer Wunsch, dass wir alle da mutiger würden, am Ende profitieren wir alle davon.

Ich schaue auf das leuchtende Kreuz in Notre Dame. In den vielen Realitäten unserer Welt, unserer Kirche und meines Lebens bleibt die Hoffnung auf ihn. Er lebt, er geht mit, er schenkt sich immer wieder.

 

 

[1] Aus Franz Kamphaus, Lichtblicke. Jahreslesebuch, Freiburg/Basel/Wien 2014, 283.