Hochfest der „Ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“.

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf am Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Gottesmutter (Seminarfeiertag) Augustinerkirche Mainz, Donnerstag, 8. Dezember 2022, 16.30 Uhr

Bischof Peter Kohlgraf bei seiner Predigt in der Mainzer Augustinerkirche zum Seminarfeiertag des Priesterseminars (c) Bistum Mainz
Datum:
Do. 8. Dez. 2022
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Unsere Welt ist keine heile Welt, und in diese Welt wird jeder Mensch hineingestellt. Wir hören im Advent kurz vor Weihnachten den Stammbaum Jesu aus dem Matthäusevangelium. Es ist doch interessant, dass dieser Stammbaum Sünder und Heilige umfasst und ein Abbild der Geschichte des Gottesvolkes abbildet, mit Licht und Schatten, mit Heiligkeit und Schuld.

Wir feiern das Hochfest der „Ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“. Eine Position zur Erbsünde konnte man am 5. Dezember auf katholisch.de lesen. Ich darf den kurzen Artikel zitieren:

„Der katholische Theologe Hermann Häring macht die christliche Lehre von der Erbsünde für viele kirchliche Fehlentwicklungen verantwortlich. Diese Lehre besagt vereinfacht, dass auf jedem Menschen als einem Nachfahren von Adam und Eva von Geburt an die Erbsünde lastet. Häring schreibt in einem Beitrag für die Zeitschrift "Christ in der Gegenwart", auch die katholische Kirche sei durch "dieses dunkle, traumatisierende Menschenbild geprägt". Der Erbsündenglaube habe "zu einer allgemeinen Freiheits- und Weltangst, zur Angst vor Selbstständigkeit und Autonomie, schließlich zu Sexualphobie und Frauenhass" geführt.

Im Katholizismus habe die Lehre massiven Klerikalismus begünstigt, weil eine Elite notwendig geworden sei, um Menschen kraft Amtes Gnade zu vermitteln. Es gelte, das "Erbsündensyndrom" zu überwinden, das in Traditionen, Liturgie, Kirchenliedern und Gebeten bis heute tief verankert sei, so Häring. Verantwortlich für die Fehlentwicklungen macht Häring vor allem den Apostel Paulus und den Kirchenvater Augustinus. Ausgangspunkt des christlichen Menschenbildes muss nach Ansicht des früheren Theologieprofessors die "ungeschmälerte Freiheit" sein. Das entscheidende Motiv für einen Abschied von der Lehre sei "das befreiende und solidarische Menschenbild, an das uns die Geschichte Jesu von Nazareth erinnert". Wenn die Kirchen ihre Lehre nicht änderten, "wird ihr Bedeutungsverlust noch dramatischer".“

Tatsächlich kann diese kirchliche Lehre einem fatalen Missverständnis unterliegen. Der Vers aus Psalm 51: „In Sünde hat mich meine Mutter empfangen“ hat nicht selten zu einer negativen Bewertung der menschlichen Sexualität insgesamt geführt. Bestimmte Akzente der augustinischen Theologie haben keine segensreiche Wirkung entfaltet. Ich meine allerdings, dass Häring hier wenigstens dem Apostel Paulus Unrecht tut, und auch vielen großartigen Aspekten der augustinischen Theologie. Und ich las vor einigen Jahren einmal einen theologischen Kommentar, dass man angesichts der Situation dieser Welt gerade den Aspekt der Erbsünde im recht verstandenen Sinne wieder stark machen müsse. Schaut man sich die Welt an, habe man zahlreiche Belege für die Richtigkeit der Erbschuldlehre. Denn die Realität zeigt, dass die Welt geprägt ist von einer Geschichte auch des Bösen, in die jeder Mensch ohne persönliche Schuld hineinkommt. Also: abschaffen oder besser verstehen? Ich plädiere für letzteres.

Es war ja nie der Kern der Erbsündenlehre, dem Menschen die Freiheit abzusprechen. Es ging auch nie darum, wenn ich es recht verstehe, die Verknüpfung jedes Menschen mit der Schuldgeschichte der Menschheit als einen persönlich zu verantwortenden moralischen Makel zu beschreiben. Aber jeder Mensch wird, so auch der genannte Psalm 51, in eine Geschichte der Sünde und Schuld hineingeboren. Unsere Welt ist keine heile Welt, und in diese Welt wird jeder Mensch hineingestellt. Wir hören im Advent kurz vor Weihnachten den Stammbaum Jesu aus dem Matthäusevangelium. Es ist doch interessant, dass dieser Stammbaum Sünder und Heilige umfasst und ein Abbild der Geschichte des Gottesvolkes abbildet, mit Licht und Schatten, mit Heiligkeit und Schuld. In diese Geschichte steigt der Erlöser ein. Dadurch wird dem Menschen die Möglichkeit geschenkt, sich aus der Verflochtenheit in die Schuldgeschichte befreien zu lassen – aus Gnade, wie Paulus sagt. Ich muss mich eben nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Bösen herausziehen, ich bin erlöst, die Menschheit ist erlöst. In den Sakramenten, die wir feiern, wird uns immer wieder diese Erfahrung des Erlöstseins, der Gotteskindschaft geschenkt, sie sind wirklich Zeichen der liebenden Nähe Gottes. Es gehört zum priesterlichen Dienst, diese Sakramente zu schenken, „immer gratis, aber nie umsonst“, wie ein Buchtitel von Ottmar Fuchs lautet.  In den Sakramentenspendungen handelt immer Christus selbst, der Mensch, der Sakramentenspender leiht ihm seine Hände. Ich meine, dass dies genau das Gegenteil von Klerikalismus ist. Die Erlösung führt in die Freiheit, das ist die Kernbotschaft des Paulus im Römerbrief. Zunächst beschreibt er in dunklen Farben das Ausgeliefertsein der Menschheit an die Sünde, das Böse. Das ist natürlich rhetorisch dramatisch gestaltet, um die Erlösung, den Erlöser und die neue Freiheit in Christus umso lichtvoller zu zeichnen. Der Mensch kann nun zwei Linien folgen, das ist Freiheit. Freiheit braucht Hilfe und Orientierung. Gerade die Freiheit von der Sünde ist nicht Beliebigkeit, sondern eben Freiheit in Christus. Woran orientiert sich nun der erlöste Mensch?  Das eine ist die Orientierung nach dem Fleisch. Das Fleisch steht für das Vergängliche, Oberflächliche. Paulus kritisiert eine Haltung, die nur davon lebt, den eigenen Willen zu verwirklichen, nur die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse zu suchen. Dann macht der Mensch den anderen zum Mittel für seine eigenen Zwecke. Wer dem Fleisch folgt, sieht nur sich, er steht im Mittelpunkt. Meistens sind es vergängliche Werte, die ihm lebensnotwendig erscheinen: alles wird dem Geld, der Karriere, der Macht untergeordnet. Hauptsache, es geht dem Individuum persönlich gut. Auch Gott wird allein für die eigenen Zwecke eingesetzt. Ich bete doch, ich halte die Gesetze, und darauf bilde ich mir gehörig etwas ein. Ich brauche nicht die Gnade und Vergebung, weil ich doch im Grunde ein guter Mensch bin. Eigentlich kann Gott froh sein, dass ich mich für ihn interessiere, dann muss er mir aber auch geben, was ich will. Menschen sind stolz auf ihre Leistung, auch im Bereich der Frömmigkeit. All das ist Leben nach dem Fleisch. Ist das Freiheit? Paulus würde sagen: nein. Der Mensch wird nämlich zum Sklaven seiner Bedürfnisse. Alles Denken kreist um sich selbst. Der Mensch meint, frei zu sein, und ist doch ein Sklave seines kleinen Ego. Ich kann aber auch dem Geist folgen. Das Gesetz des Geistes ist die Liebe. Wer dem Geist folgt, sucht das Glück auch der anderen. Er kann keine Selbstverwirklichung finden, ohne nicht auch dem anderen dienen zu wollen. Er weiß, dass das wahre Glück nicht im Geld, in der Karriere und der eigenen Macht liegt, sondern in einem Leben, das dem anderen Menschen Raum gibt. Wer dem Geist folgt, hat eine innere Orientierung. Er steht nicht wie Sartre vor den unzähligen Wahlmöglichkeiten, die ihn alle überfordern, so dass Freiheit zur Last wird, er kann wirklich zwischen Gut und Böse unterscheiden. Er hat auch Maßstäbe, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden. Er denkt nicht von sich her, sondern er möchte das Gute auch für andere. Hier geht es im Glauben nicht darum, Gesetze äußerlich zu erfüllen, sondern darum, aus der Beziehung zu Gott heraus immer mehr zu dem Menschen zu werden, den Gott aus mir machen will. Solch ein Leben ist reich, und es wird nur selten zur oberflächlichen Routine. Der Geist hält den Menschen lebendig. Wahre Freiheit ist Geschenk, Gabe und Aufgabe zugleich. Erbschuld/Erbsünde ist kein Begriff der paulinischen Theologie, aber der Grundgedanke schon: „So wie in Adam alle sterben, sind in Christus alle lebendig geworden.“ (1 Kor 15,22) Erlösung bedeutet aber, in die Freiheit gesetzt zu sein. Wir sollten auf diesen Gedanken von Schuld und Erlösung nicht verzichten. Denn er ist realistisch und zugleich ermutigend. Wir sind nicht mehr Sklaven der Sünde. Das heutige Marienfest steht für den Glauben, dass Gottes Gnade den Menschen herausnimmt aus der Abhängigkeit an das Böse, gleichzeitig aber auch Orientierung schenkt, die Freiheit im Sinne der Nachfolge Jesu leben zu können. Wir verehren Maria als die Ersterlöste, aber nicht als die Einzigerlöste. Mit ihr sind wir gerufen, unser Ja in Freiheit zu sprechen, unser Ja zu unserer persönlichen Erwählung, unser dankbares Ja zur Freiheit in Christus.