Ich wünsche allen, dass wir das große Ziel nicht aus dem Blick verlieren, und dass wir nie mutlos werden im Advent unserer Zeit und unseres Lebens

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Pontifikalamt am Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria (Seminarfeiertag) Dezember 2019, Augustinerkirche Mainz

Datum:
Mo. 9. Dez. 2019
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Die Geschichte vom Paradies und der ersten Sünde des Menschen ist wohl den meisten seit Kindertagen geläufig, und doch ist sie alles andere als eine Kindergeschichte. Sie beschreibt die uralte Erfahrung des Menschen, dass er den Mächten des Todes und der Sünde begegnet. Dafür steht die Schlange. Die Schlange war noch nie ein allseits beliebtes Tier. Menschen reagieren in Panik, wenn sie ihr begegnen, und auch die Schlange wehrt sich in Todesangst, indem sie zubeißt und den Menschen an der Ferse trifft. Der biblische Autor sieht darin wohl ein Bild für den immerwährenden Kampf des Menschen mit den Mächten des Bösen, des Unheils und des Todes. Er wehrt sich, und am Ende wird er doch getroffen. Am Ende verliert der Mensch den Kampf gegen das Böse und den Tod. Durch menschliche Schuld hat die Erde aufgehört, Paradies zu sein; und so sehr der Mensch panisch den Tod abwehren will, am Ende geht er als Verlierer aus der Schlacht. Die Schlange gewinnt.

Am Ende der Geschichte steht der rätselhafte Satz vom Nachkommen der Frau, der den Nachwuchs der Schlange besiegen wird. Im Judentum wird dies manchmal als Hinweis auf den Messias gelesen, und in dieser Tradition haben christliche Autoren darin einen Hinweis auf Christus, den Erlöser verstanden. Der Kirchenvater Irenäus nennt diese Stelle das „Protoevangelium“, die Ankündigung des Sieges Christi über den Tod und die Sünde. Gott selbst kündet der Schlange – dem Tod – den Tod an. Das Böse und der Tod werden einmal überwunden sein. Dennoch sieht die Geschichte aus dem Buch Genesis unsere derzeitige Situation noch sehr realistisch als Kampf an. Das Böse ist zwar endgültig besiegt, aber das alltägliche Leben des Menschen ist dem Bösen und dem Tod noch ausgesetzt. Letztlich aber ziehen die Schlange, das Böse und der Tod den Kürzeren. Das Böse und der Tod verletzten uns, und haben doch, wenn wir glauben können, keine wirkliche Macht mehr über den Menschen und die Welt.

In der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Heiligen Schrift, taucht das Motiv der Schlange wieder auf. Johannes beschreibt die Situation der Kirche in der Verfolgung. Mehr noch als irdische Verfolgung bleibt die alte Schlange die eigentliche Gefahr für die Kirche und den einzelnen Christen. Gleichgültigkeit, Lieblosigkeit, Untreue Gott gegenüber, Lauheit im Glauben zeigen, dass das Böse immer noch Erfolg hat. Und doch leben in der Kirche die zahlreichen Glaubenszeugen, die zeigen, dass der Tod und die Sünde überwunden sind. Am Ende beschreibt der Seher Johannes die großartige Vision, dass der Drache, die alte Schlange vernichten wird. Dann wird es einen neuen Himmel und eine neue Erde geben, Gott wird unter den Menschen wohnen. Der Tod wird nicht mehr sein, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Und der, der auf dem Thron saß, sprach: „Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21, 5). Wer treu bleibt, wird Gottes Kind heißen. In diesen Texten erscheint der große Bogen zwischen dem ersten Buch der Bibel und dem letzten.

Wir sind auf dem Weg zwischen der ersten Station – der Mensch öffnet dem Bösen die Tür und scheint ihm und dem Tod hilflos ausgeliefert – und der letzten Station – dem neuen Himmel und der neuen Erde. Das meint Leben im Advent. Die Bibel malt uns keine rosarote Traumwelt, sondern beschreibt die Lebenssituation der meisten Menschen wohl sehr realistisch. Das Böse und der Tod bleiben Realität – und sind doch im letzten machtlos geworden. Damit wir nicht mutlos werden und das Ziel aus dem Blick verlieren, müssen wir wohl immer wieder auf die Zeuginnen und Zeugen des Glaubens schauen, die für den Sieg über das Böse stehen. Im Buch der Geheimen Offenbarung sind dies die Märtyrer und die Heiligen, die durch ihre Treue das himmlische Jerusalem erlangt haben. Und es sind die Vielen, die heute das Licht Christi strahlen lassen. Christen haben natürlich in der Frau auch immer einen Hinweis auf Maria gesehen, deren Nachwuchs den Tod besiegt hat. Nicht umsonst singen wir von ihr in einem Lied, dass sie die Morgenröte ist, die über dem Paradies steht[1]. Wo der Mensch panisch nach der Schlange schlägt, leuchtet schon die Erlösung, leuchten Vergebung und ewiges Leben.

Wir hören die uralte Erzählung am Fest unseres Seminars. Wir feiern die Erwählung Mariens, den Sieg über Sünde und Tod, der sich in ihrer Erwählung abzeichnet. Im Leben der Kirche, im Leben des Einzelnen meldet sich immer wieder die alte Schlange zu Wort. Papst Franziskus hat immer wieder von „dem Bösen“ gesprochen, der in dieser Welt regiert, und dafür hat ihn viel Kritik getroffen. Allerdings schiebt die biblische Sprache die Schuld und das Versagen nicht auf die Schlange. Der Mensch ist und bleibt Täter oder Täterin des Bösen. Und doch macht die Heilige Schrift Mut: zur alltäglichen Nachfolge, zur Treue zu Gottes Wort, zum Tun des Guten inmitten einer Welt von Licht und Dunkel. Unser Seminar soll ein Haus der Berufenen und der Berufung sein, in dem wir uns gegenseitig helfen, ermutigen, stützen und begleiten. Die Erwählung Mariens lässt uns über unsere Erwählung staunen, über die Freundschaft, die Gott uns anbietet. Ich wünsche allen, dass wir das große Ziel nicht aus dem Blick verlieren, und dass wir nie mutlos werden im Advent unserer Zeit und unseres Lebens.

 

[1] „Sagt an, wer ist doch diese, die auf dem Himmel geht / die überm Paradiese als Morgenröte steht“(Gotteslob Nr. 531).