Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Pontifikalrequiem an Allerseelen Hoher Dom zu Mainz, Mittwoch, 2. November 2022, 8.15 Uhr

RT8A0013-R (c) Bistum Mainz
Datum:
Mi. 2. Nov. 2022
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

An Allerseelen empfehlen wir alle Toten der Barmherzigkeit Gottes. Wir beten in diesem Gottesdienst für sie. Mit manchen sind wir persönlich verbunden, aber wir beten auch für alle, die längst vergessen sind. In Gottes Gedächtnis, in seiner Gegenwart leben sie. Mit vielen verbinden uns Sympathie und Freundschaft, Trauer über ihren Tod prägt unser Leben, andere kennen wir nicht, und dennoch sind wir im Glauben mit ihnen verbunden. Das Gebet in jeder Eucharistiefeier für die Verstorbenen ist für mich einer der wichtigsten Gedanken. Wir beten für sie, wir sind ihnen verbunden, eines Tages werden andere hoffentlich mich nicht vergessen und mich in ihre Gebete einschließen. 

Im Stundengebet beten wir immer wieder mit einem Wort aus dem Prophetenbuch Jesaja: „Du hast mein Leben zu Ende gewoben und abgeschnitten wie ein fertig gewobenes Tuch“ (Jes 38). Das halte ich für ein sehr hilfreiches biblisches Bild. Wenn wir auf ein menschliches Leben zurückblicken, wenn wir es vielleicht auch bewerten wollen, müssen wir uns verdeutlichen, dass wir nie das Ganze sehen, sondern höchstens einzelne Fäden. Wir sehen höchstens Bildausschnitte, nie den ganzen Zusammenhang. Das gilt auch im Blick auf viele unserer uns verbundenen Toten. Jedes menschliche Leben bleibt immer Fragment, und wir beten, dass Gott dieses Fragment zur Vollendung führt, dass er Schuld vergibt, und das Gute eines menschlichen Lebens in seinem Himmel vollendet. 

Wir sehen nie das Ganze, sondern nur Ausschnitte. Ich stelle mir als gläubiger Mensch vor: Gott sieht den ganzen Menschen, das ganze Lebensbild und Lebenswerk. Und er ist in der Lage ist, einen Menschen mit all seinen Facetten zu sehen und zu beurteilen. Ich glaube als Christ, dass eine Sehnsucht nach dem Paradies, wenn die Deutung denn stimmt, im letzten eine Sehnsucht auch nach Gott und letzter Geborgenheit ist. Ich hoffe, dass unsere Verstorbenen jetzt in dieses Paradies eingegangen sind und Heimat gefunden haben. 

Vieles im Leben unserer Toten hat sich im Verborgenen ereignet. Gott kennt diese Lebenswege und kann sie bewerten. Er hat immer in das Innere, ins Herz geschaut und wird das Gesamt eines menschlichen Lebens werten und mit Barmherzigkeit richten können. 

Sterben und den Tod glauben Christen als Vollendung. Das heißt:  Alles Gute, was ein Mensch gesät hat, wird von Gott gewürdigt, und der Mensch als Ganzer wird in ein ewiges Glück und einen ewigen Frieden geführt, die ihm diese Welt nie werden geben können. Dazu gehört auch: Jeder Mensch bleibt immer hinter dem zurück, was er hätte an Gutem tun können. Wenn wir bei einem christlichen Gedenken unsere Verstorbenen Gott anvertrauen, um Heimat, Vollendung und letztes Glück beten, dann beten wir auch darum, dass Gott jede Schwäche und Schuld, die jeder Mensch auf sich lädt, vergibt und jeder Mensch wirklich vollkommen wird. Himmel bedeutet ein Leben ohne Tod und Leid, ohne Last und Unvollkommenheit. 

Gott sieht das Lebensganze, er ordnet Dinge in den Zusammenhang, er vollendet das Unvollkommene und erfüllt die Sehnsucht des Menschen nach Glück und Frieden. Darum beten wir heute für unsere Verstorbenen. Das Gebet soll aber auch uns Lebende verändern. Denn wir werden an die eigenen Grenzen erinnert. 

Die Erfahrung von Grenzen und Vergänglichkeit muss dem Menschen keine Angst machen. Sie kann genutzt werden, um bewusster, biblisch gesprochen, wachsamer zu leben. Wenn ich die Tatsachen nicht verdränge, werde ich tatsächlich stets bemüht sein, etwa menschliche Beziehungen zu klären, und dies nicht auf irgendwann zu verschieben. Ich werde tatsächlich dankbarer werden für jeden geschenkten Tag und meine Lebenszeit. Wer zulässt, vergänglich und begrenzt zu sein, der wird wachsam sein für die Hilfe, die andere auf ihrem Weg brauchen. „Seid wachsam“: Wenn Jesus dies sagt, schärft er uns ein, so zu leben, dass wir Wichtiges sehen und nicht auf die lange Bank schieben, dass wir jederzeit so leben, dass wir mit Hoffnung und Vertrauen vor unseren Schöpfer treten können. 

Die christliche Verkündigung verdeutlicht, dass es Chancen geben kann, die nie wiederkommen. Glauben motiviert, Verhältnisse zu klären, Chancen zu ergreifen. Vergänglichkeit bedeutet für den gläubigen Menschen aber auch, immer mehr hineinzuwachsen in die Ewigkeit Gottes. Das muss ich einüben, damit es mir hoffentlich in meiner letzten Stunde gelingt, mich in seine Hände zu geben. Glaube ist daher Lebenshilfe, aber muss sich schließlich angesichts des Todes und der vielen kleinen Vorboten im Leben eines Menschen bewähren.

Gott sieht das Ganze des Lebens, während wir nur Teile beschreiben können. Wir werden das Leben unserer lieben Verstorbenen nie in Gänze würdigen und einschätzen können. Glaubende Menschen sehen darin auch nicht ihre eigentliche Aufgabe. Unser Gebetsdienst besteht darin, Gott zu bitten, das ganze Leben der vielen Toten anzunehmen in seine Hände und sie zu verwandeln durch die Erfahrung seines göttlichen Lichts. Christen sprechen sogar von der Liebe, durch die Gott am Ende die Verstorbenen durchglüht. Diese Liebe möge uns über den Tod hinaus verbinden. Wir glauben an Christus, den gnädigen Richter, der nicht gekommen ist, um zu richten, sondern zu retten. Nicht nur für unsere Verstorbenen ist dies meine Hoffnung, sondern auch für mich ganz persönlich. Jeden Abend bete ich in der Komplet, dem Nachtgebet der Kirche: „In deine Hände lege ich mein Leben“. In seinen Händen mögen unsere Toten ruhen, und wir beten auch, dass wir in diesen Händen Geborgenheit und Frieden finden.