"Wer Jesus nur über die Wunder sucht, wird ihn nicht verstehen."

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf in der Feier vom Leiden und Sterben Christi („Karfreitagsliturgie“) Dom zu Mainz, Karfreitag, 19. April 2019, 15.00 Uhr

verdunkelte Sonne (c) Bistum Mainz
Datum:
Fr. 19. Apr. 2019
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Dem Markusevangelium zufolge ereignen sich zur Todesstunde Jesu dramatische Dinge (vgl. Mk 15,33-41). Mittags tritt eine Finsternis ein, die Mächte des Himmels sind erschüttert. Für diese Welt gibt es kein Licht, scheinbar keine Hoffnung mehr. Nachdem Jesus mit den Worten des Psalms 22 nach Gott, seinem Vater gerufen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, reißt der Vorhang des Tempels von oben bis unten entzwei.

Der Vorhang verhinderte den Blick des Volkes in das Allerheiligste des Tempels. Jetzt, mit dem Tod Jesu, seiner letzten und radikalsten Hingabe an den Vater und die Menschen ist der Blick in das Allerheiligste freigeworden. Das Allerheiligste im Tempel: Einmal im Jahr durfte der Hohepriester dieses Allerheiligste betreten. Im alten Jerusalemer Tempel befanden sich dort die Bundeslade und die Bundestafeln. Sie waren der Beweis für Gottes Treue, seine Zuwendung, Vergegenwärtigung der Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens. In dieses Allerheiligste geht der Hohepriester einmal im Jahr, um Opfer für die Sünden des Volkes darzubringen. Betreten darf nur er allein diesen Raum hinter dem Vorhang. Gott kann man sich nicht so einfach nähern, der Eintritt in das Allerheiligste war sicher für den Hohepriester jedes Jahr eine umwerfende Erfahrung, ein Erleben in Furcht und Zittern. Seit Mose war klar: „Kein Mensch kann mich (Gott) sehen und am Leben bleiben.“ (Ex 33,18). Die Begegnung mit dem großen Gott überfordert den kleinen, sündigen Menschen. Der Priester musste die Zuwendung des großen, unvorstellbaren Gottes vermitteln, er tritt vor Gott, weil die Menschen seine Nähe nicht aushalten können. In der Erfahrung der Finsternis hat dieser Gott angesichts des Todes seines Sohnes sein Angesicht verborgen: Warum hast du uns verlassen? Die Sünde, das Böse ist übermächtig geworden, der Bruch des Bundes, die Abkehr der Menschen von der angebotenen Liebe Gottes zu radikal, scheinbar unumkehrbar. Das war es dann gewesen.

Und dann reißt dieser Vorhang und gibt den Blick ins Allerheiligste frei. Unvorstellbar. Der erste, der versteht, ist dann der römische Hauptmann, der bekennt: Dieser Mensch war Gottes Sohn. Es braucht keinen Hohepriester mehr, jeder, der Jesus sieht, sieht die Wirklichkeit und die Gegenwart Gottes. Jesus selbst ist der Hohepriester, der sich hingibt. Gehen wir zurück in das Markusevangelium. Jesus vollbringt dort staunenswerte Wunder und Zeichen, er treibt Dämonen aus, er heilt Kranke, er vergibt Schuld, was nur Gott selbst zusteht. Die Leute staunen und können diese Erfahrungen nicht für sich behalten, zu großartig ist das, was sie erleben. Und man sollte meinen, Jesus würde sie ermutigen, die Botschaft weiter zu tragen. Allerdings geschieht genau dies nicht: „Er aber gebot ihnen, dass sie ihn nicht bekannt machen sollten.“ (Mk 3,12). Bibelausleger haben sich immer gefragt, warum Jesus so reagiert. Dahinter scheint die Auffassung Jesu zu stecken, dass man ihn nicht verstehen könne, wenn man seinen konsequenten Weg zum Kreuz nicht mitgeht, sondern seinen Glauben an den Wundern und Zeichen festmacht. Erst nachdem er seinen Weg vollendet hat, ist der Blick ins Allerheiligste offen, kann man den Plan Gottes begreifen. Erst am Karfreitag erschließt sich der Sinn des Lebens und Wirkens Jesu. Alles ist Hingabe bis zum letzten. Der Hebräerbrief formuliert entsprechend, wie Jesus sein Priestertum, seine Zuwendung zu den Menschen gelebt hat: „So hat auch Christus sich nicht selbst die Würde verliehen, Hohepriester zu werden, sondern der zu ihm gesprochen hat: Mein Sohn bist du. Ich habe dich heute gezeugt, wie er auch an anderer Stelle sagt: Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks. Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört worden aufgrund seiner Gottesfurcht. Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden und wurde von Gott angeredet als Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks.“ (Hebr 5,5-10). Wer Jesus nur über die Wunder sucht, wird ihn nicht verstehen. Erst im Leiden und Sterben zeigt er die wahre Größe Gottes. Es ist paradox. Gottes Macht zeigt sich in der Hingabe, in der Schwäche, im Sterben. Erst wenn das ins Herz geht, beginnen die Wunder und Worte Jesu zu leuchten. Jetzt öffnet sich der Vorhang ins Allerheiligste. Jetzt beginnt die Liebe Gottes konkret zu werden. Wer Jesus, den Gekreuzigten sieht, beginnt, Gott nahe zu kommen, nach und nach zu begreifen, wie er ist.

Der Blick ist für alle offen. Es braucht keinen Hohepriester mehr, weil Jesus selbst den Weg und den Blick in das Herz Gottes geöffnet hat. Wer ihn sieht, sieht den Vater. Es gibt wohl noch einen Grund, warum Jesus zu Lebzeiten nicht will, dass man nur über die Wunder staunt und von ihnen erzählt. Wer den Blick in das Heiligtum geworfen hat, muss selbst den Weg der Nachfolge Jesu gehen lernen. Im Glauben geht es nicht allein um das Staunen vor der Größe Gottes, sondern um das eigene Hineingehen in die Lebensform Jesu. Der Blick in das Allerheiligste bleibt nicht ohne Folgen. Tatsächlich folgt aus dieser Erfahrung der unendlichen Liebe, die sich am Kreuz gibt, die Bewegung der Jüngerinnen und Jünger, daraus entsteht die Kirche. Seit Paulus ist klar, dass sie nicht eine Bewegung der Klugen und Mächtigen sein solle, sondern: „Seht doch auf eure Berufung, Brüder und Schwestern! Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme, sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten, damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott. Von ihm her seid ihr in Christus Jesus, den Gott für uns zur Weisheit gemacht hat, zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung. Wer sich also rühmen will, der rühme sich des Herrn; so heißt es schon in der Schrift.“ (1 Kor 1,26-31). Paulus spricht nicht gegen Klugheit und Intelligenz. Er erinnert wohl daran, was die Berufung des Christen ausmacht: die Nachfolge Christi, des Gekreuzigten, seine Hingabe, sein Beispiel, dem es zu folgen gilt. Wir müssen lernen, was es heißt, den Weg der Hingabe und des Kreuzes mitzugehen. Es ist jedenfalls nicht der Weg der Herrschaft und der Macht. Es ist nicht der Weg, Menschen vom Heil auszuschließen, sondern einzuladen.

Es ist Auftrag der Kirche, den Vorhang, den Blick ins Allerheiligste offen zu halten, und nicht, den Zugang und den Blick zu versperren. Wir erkennen, dass das nicht immer überzeugend gelingt, ganz im Gegenteil oft genug bin ich selbst der Grund dafür bin, dass Menschen die Liebe Gottes in Jesus Christus nicht mehr glauben können und wollen. Auch wenn der Himmel sich verdunkelt und die Erde bebt, der Vorhang bleibt von Seiten Gottes offen. Er beantwortet den Hass und die Sünde mit seiner bleibenden Gegenwart. Es wird Ostern werden.