"Wohin ich dich sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden" (Jer 1,7)

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf 
bei der Sendungsfeier der Gemeindereferentinnen und –referenten Hoher Dom zu Mainz, Samstag, 19. Juni 2021

Bischof Peter Kohlgraf (c) Bistum Mainz
Datum:
Sa. 19. Juni 2021
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Liebe Frau Draxler, liebe Frau Kron, lieber Herr Wach, liebe Familien und Freunde
Schwestern und Brüder!

„Wohin ich dich sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden“ (Jer 1,7). So lautet das Motto in der Einladung zu diesem Sendungsgottesdienst. Dies ist ein Wort aus dem Prophetenbuch Jeremia.

Dieser Prophet lebte im 6. Jahrhundert vor Christus, seine Lebenszeit prägen der Untergang des Reiches Juda und die damit verbundenen politischen und religiösen Herausforderungen und Spannungen1 . Anders als andere Propheten lässt uns Jeremia in sein Inneres schauen. Vor uns steht ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit feuriger Begeisterung und gleichzeitig existenziellen Fragen und Zweifeln. Er schwebt nicht über den Dingen, sondern lässt sich von den Fragen und Problemen seiner Zeit berühren, sogar erschüttern. Vor dem Sendungsspruch erfährt er von seiner Berufung, schon im Mutterleib habe Gott ihn erwählt. Zunächst sträubt er sich gegen seine Berufung: Ich bin noch so jung. Ich kann doch nicht reden, sagt er. Dahinter mag auch die Sorge stecken, dass die Leute einen so jungen Menschen nicht ernst nehmen würden. Gott macht ihm Mut. Denn es kommt nicht auf seine eigene Kraft und Stärke an: Gott selbst legt ihm seine Worte in den Mund. Der Prophet soll Gottes Mund sein, nicht seine eigenen Ideen allein verkünden.

Menschen werden zu Gottes Stimme! Das geschieht auch heute, in dieser Sendungsfeier. Gott berührt den Mund der Verkünderinnen und Verkünder, und sie dürfen voll Freude und Mut das Wort Gottes verkünden. Die eigenen Grenzen dürfen sein und dürfen angenommen werden. Gott erwartet keine unfehlbaren, starken, von ihrer Stärke Überzeugten. Gott erwartet Menschen, die sich von ihm berühren lassen. Das erfährt auch Jeremia, der Prophet. Jeremia hat jeden Grund, besorgt zu sein. Die Menschen verlieren in Scharen ihren Glauben an einen mächtigen Gott. Der Prophet leidet darunter, denn in Erinnerung bleiben die guten, glaubensstarken Zeiten. Es gab eine Zeit der „ersten Liebe“, der Liebe „der Brautzeit“ (Jer 2,2). Das Volk Gottes sucht sich andere Götter. Es geht nicht zur Quelle lebendigen Wassers, sondern sucht sein Glück in Zisternen mit Rissen. In diesen Zisternen sind vielleicht noch Restbestände von Wasser, oft brackig und vergiftet. Der Prophet muss daran erinnern, dass Gott „allein genügt“. Die Zisternen sind nicht unbedingt in sich schlecht, aber sie stillen den Durst nicht. Als Teresia von Avila den bekannten Satz sagte, dass Gott allein genüge, äußerte sie sich nicht gegen die guten Angebote dieser Welt. Aber sie erinnerte daran, dass alle menschlichen Glücksangebote vorläufig bleiben müssen, während Gott vollendete Fülle und Freude verspricht. Jeremia stellt also die Frage nach dem endgültigen Glück, er will falsche Götter entlarven. Er ruft in die Entscheidung. Das wird für Seelsorgerinnen und Seelsorger eine aktuelle prophetische Aufgabe sein. Wir leben tatsächlich in Zeiten der Entscheidung. Die Kirche, jeder und jede einzelne, muss sich entscheiden. Wer ist mein Gott? Bei wem suche ich mein Heil? Auch die Kirche und ihre Vertreterinnen und Vertreter sind nicht Gott. Sie sind seine Stimme, sein Werkzeug – so ist zu hoffen. Auch die Kirche kann selbstgemachten Göttern nachlaufen, daher braucht sie prophetische Menschen. Heute merken wir, dass viele Menschen die Stimme der Kirche nicht mehr als Gottes Stimme erkennen. Das liegt an beiden Seiten, das will ich deutlich sagen. Zu Zeiten des Jeremia wie zu unserer Zeit ist Gottes Stimme nicht dazu da, uns permanent zu sagen, dass wir schon irgendwie gut sind. Gott ruft zur Entscheidung zwischen ihm und den falschen Göttern, die es auch heute gibt. Der gefährlichste Götze ist das von allen anderen isolierte Ich des Menschen, der sich allein zum Maßstab macht. Der Prophet soll den Horizont weiten. Er soll zur wahren Quelle führen. Jeremia muss daran erinnern, dass jeder Mensch irgendeinem Herrn dient. Die Vorstellung einer völligen Freiheit und Unabhängigkeit ist eine gefährliche Illusion. Denn sie führt den Menschen oft in Abhängigkeiten anderer Herren, die täuschen und letztlich eine Gefährdung der Freiheit sind. Jeremia muss leider die Erfahrung machen, dass sich kaum jemand für seine Botschaft interessiert. Muss ich dies aktualisieren? Für ihn ist es eine bleibende schmerzliche Erfahrung. Manche Menschen zur Zeit des Jeremia leben in der Überzeugung, der Tempelkult könne sie retten. Äußerer Kult, äußerlicher Gottesdienst ist keine innere Bekehrung. Darum geht es dem Propheten. Gerne hören die Frommen das nicht. Frommer Vollzug ohne innere und sozial gelebte Liebe wird von Gott sogar als Gotteslästerung empfunden. Gott wird so leicht zum Götzen. Die Frommen und die Mächtigen halten Jeremia nicht aus. Ein Leidensweg beginnt. Er wird mit Gott leiden, aber auch mit seinem Volk. Sein Herz wird krank. Seine Augen fließen über von Tränen Tag und Nacht (Jer 14,17). Er ist überfordert von seiner Aufgabe, er will immer wieder weglaufen. Er beginnt, mit Gott zu ringen. Er klagt ihn an. Er lebt zunehmend in dem Gefühl, Gott habe ihn getäuscht, ja überwältigt. An einem zweifelt er nicht: Seine Berufung ist echt, und Gott ist Wirklichkeit. Er kann seine Leiden und Fragen immer nur zu diesem Gott bringen, denn er täuscht nicht. Und nach und nach wird sein Schmerz zu einer Identifikation mit dem Schmerz Gottes selbst. Prophetentum ist Teilhabe an Gottes Gefühlen für die Menschen. Der Prophet wird zum Zeichen, sein ganzes Leben zu einem Hinweis auf den lebendigen Gott, der die Menschen so sehr liebt, dass er leidet, an ihrer Lieblosigkeit, an ihrem oft unmenschlichen Umgang miteinander, an ihrer Selbstzerstörung. Am Ende wird er zum Tröster. Gott hört nicht auf zu lieben, sein Herz brennt für die Menschen. Auch daran nimmt der Prophet teil. Er muss nicht nur mahnen, er muss auch trösten und verbinden. Gott steht zu seinem Bund, auch wenn die Menschen untreu sind. „An ihre Sünden denke ich nicht mehr“ (Jer 31,34). Auch diese Botschaft muss der Prophet als Gottes Mund verkünden.

Liebe Frau Draxler, liebe Frau Kron, lieber Herr Wach! Sie haben sich eine große Persönlichkeit ausgesucht: einen Berufenen, einen Mahner, einen Ringenden, einen Tröster. Sie werden in diesen Fußspuren gehen dürfen, ja müssen. Denn Gott braucht heute prophetische Menschen. In diesen Dienst sind Sie gerufen. Sie müssen keine Angst haben, denn Gott bleibt treu. Auch Ihnen bleibt er treu. Bevor Sie antworten, hat er Sie berufen. Er legt Ihnen sein Wort in den Mund und ins Herz. Leben Sie aus dieser Beziehung, aus dieser Berufung und aus diesem Wort. Reden Sie von den Wassern des Lebens und vom Leben in Fülle. Vor allem: lassen Sie Ihr Leben zu einem Zeichen für diese brennende Liebe Gottes werden, so dass Sie nicht nur durch das Wort verkünden. Am Ende hat der Prophet dadurch überzeugt.

1Wichtige Anregungen entnehme ich Johanna Knopp, Israels Propheten – Gottes Zeugen heute, Paderborn 1991, 111-140.