"Christus gab sein Leben für uns"

Katechese am Donnerstag, 17.08.2000, in der Villa Carpegna in Rom

Datum:
Donnerstag, 17. August 2000

Katechese am Donnerstag, 17.08.2000, in der Villa Carpegna in Rom

Für den heutigen Tag wollen wir uns alle mit einem weniger bekannten, aber sehr tiefen Text aus dem 1. Petrusbrief beschäftigen. Dieser Brief betrachtet besonders die Christen in ihrer Umwelt. Sie sind zwar schon zahlreich, aber sie sind sehr heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Der Verfasser des 1. Petrusbriefes stellt darum das Leiden in die Mitte seiner Betrachtungen. Dabei sieht er in einem intensiven Bekenntnis zu Jesus Christus auf das entscheidende Leitbild und Vorbild der Christen, die in der Nachfolge des Herrn diese Ablehnung ertragen können und müssen. Sie sind eben "die in der Fremde Lebenden" und bleiben ohnehin immer Pilger in unserer Welt.

Der Text lautet folgendermaßen (1 Petr. 2, 21-25):

 

"Dazu seid Ihr berufen worden;

denn auch Christus hat für euch gelitten

und euch ein Beispiel gegeben,

damit ihr seinen Spuren folgt.

 

Er hat keine Sünde begangen,

und in seinem Mund war kein trügerisches Wort.

Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht;

er litt, drohte aber nicht,

sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter.

 

Er hat unsere Sünden

mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen,

damit wir tot seien für die Sünden

und für die Gerechtigkeit leben.

Durch seine Wunden seid ihr geheilt.

Denn ihr hattet euch verirrt wie Schafe,

jetzt aber seid ihr heimgekehrt

zum Hirten und Bischof eurer Seelen."

 

Im 1. Petrusbrief geht es um eine Grundlegung der christlichen Existenz. Die Christen sind bedroht. Es gibt eine stark angespannte Beziehung der Gemeinden zur Mitbevölkerung. Dabei gilt dies nicht nur für einzelne Gemeinden sondern wohl auch für alle Gläubigen im Römischen Reich. Es kann offen bleiben, ob man zum Ende des 1. Jahrhunderts gegen die Christen allein schon deswegen vorging, weil sie zum Christentum gehörten, was dann in der Verfolgung des Nero deutlich zu greifen ist. Der Brief will mit apostolischer Autorität die angefochtenen Gemeinden stärken und ihnen einen Weg weisen. Der Brief enthält viele Ermahnungen, die den verfolgten Christen Mut machen sollten (Paränese). Ein schönes Beispiel dafür gibt das abschließende 5. Kapitel: "Werft alle eure Sorge auf ihn, denn er kümmert sich um euch. Seid nüchtern und wachsam! Euer Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe umher und sucht, wen er verschlingen kann. Leistet ihm Widerstand in der Kraft des Glaubens! Wisst, dass eure Brüder in der ganzen Welt die gleichen Leiden ertragen müssen!" (5, 7-9)

 

So ist es auch verständlich, dass kein Brief im Neuen Testament so häufig und vielfältig vom Leiden spricht. Die Gemeinde erfährt Ausgrenzung, Diffamierung und Anfeindung bis hin zu pogromartigen Übergriffen. Man darf daran erinnern, wie Christen damals – wenigstens teilweise – behandelt worden sind. Wenn der Statthalter Plinius in seinem Bericht an Kaiser Trajan über die Christenprozesse, die "dem Namen (Christen) anhaftenden Schandtaten" (Brief X, 96) schon als zureichenden Verurteilungsgrund erwägt, so ist der Name "Christ" sehr nahe zu einer Kennzeichnung als Verbrecher geworden. Es gibt hier schon Anzeichen für eine Kriminalisierung. Spuren dafür finden sich auch in unserem Brief, wenn es in 4, 14-16 heißt: "Wenn ihr wegen des Namens Christi beschimpft werdet, seid ihr selig zu preisen; denn der Geist der Herrlichkeit, der Geist Gottes, ruht auf euch. Wenn einer von euch leiden muss, soll es nicht deswegen sein, weil er ein Mörder oder ein Dieb ist, weil er Böses tut oder sich in fremde Angelegenheiten einmischt. Wenn er aber leidet, weil er Christ ist, dann soll er sich nicht schämen, sondern Gott verherrlichen, indem er sich zu diesem Namen bekennt." Vermutlich ist der 1. Petrusbrief etwa in der Zeit etwa zwischen 80 und 90 geschrieben. Der eben erwähnte Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan wäre um 110 anzusetzen.

 

Der 1. Petrusbrief weiß, dass die Christen in dieser Situation elementar herausgefordert sind. Es geht um die Festigkeit des Bekenntnisses, um Sein oder Nicht-sein. Deshalb greift der Brief auch radikal in die Mitte und Tiefe und begnügt sich nicht mit einer harmlosen Ermutigung, die eher einer Beschwichtigung ähnlich wäre. Darum ist es nicht zufällig, dass der Brief eine ganz enge Verbindung aufweist zwischen der Ermahnung zum Durchhalten und der Begründung dieses Verhaltens im Evangelium, also zwischen Paränese und Kerygma. Darum ist auch dieser sehr praktische Brief gespickt mit sehr tiefen Ausführungen zum Christusbekenntnis. Dabei fällt einem immer wieder die Nähe zu den paulinischen Schriften auf. Es ist nun aufschlussreich, dass der 1. Petrusbrief bei dieser Stärkung der angefochtenen Christen nicht nur allgemein auf die Botschaft Christi verweist, sondern auf ein schon geprägtes Bekenntnis zurückgreift, das die Gemeinden miteinander verbindet. Es sind nicht nur individuelle, theologische Gedanken, sondern die Zuverlässigkeit des Glaubensbekenntnisses ist das Fundament. Hier gibt es wiederum eine große Ähnlichkeit zum heiligen Paulus, der auch und gerade bei Auseinandersetzungen auf die Norm und das Maß des Glaubensbekenntnisses zurückgreift (vgl. z.B. 1 Kor 15,1ff). Drei Stellen heben das Christusbekenntnis besonders hervor (1,18-21; 2, 21-25; 3,18-22).

 

In diesem Zusammenhang muss auch unser Text verstanden werden. Nach den heutigen Erkenntnissen ist darin ein Gemeindelied verarbeitet worden, das es vorher schon gab. Es ist fast so etwas wie ein Lied zur Passionszeit. Man kann zwar im einzelnen nicht mehr direkt Strophen erkennen. Aber das Stück hat doch eine eigene Sprache und einen kunstvollen Aufbau, der gerade in den Versen 22 – 24 erkennbar wird. Man kann also auch in einem Lied die Lehre des Glaubens gut entfalten.

 

Noch durch eine andere Besonderheit ist unser Text ausgezeichnet. Er greift nicht nur, was in einem Lied schon bemerkenswert ist, auf das konzentriert formulierte Glaubensbekenntnis ("Glaubensformeln") der frühen Christenheit zurück, sondern stützt sich noch tiefer auf das Zeugnis der Heiligen Schrift. In diesem Fall geht es vor allen Dingen um das Alte Testament. In dem relativ knappen Text gibt es mehrere klar erkennbare Zitate aus dem Propheten Jesaja, ganz besonders aus dem vierten Gottesknechtslied aus Jes 53 (vgl. die Zitate aus Jes 53, 4.5.6.9.12). Die angefochtenen Christen können also des Trostes und der Hilfe gewiss sein. Gott hat bereits in frühester Zeit seine Verheißung zugesagt und nun eingelöst.

 

Die Gedanken des 1. Petrusbriefes sind uns heute oft fremd. Wir erleben Leid als etwas Unvermeidliches, das man entweder rebellisch abstoßen will oder resigniert hinnehmen muss. Es hat gleichsam keine Qualität, um sich wirklich mit ihm auseinanderzusetzen. Wir haben darüber hinaus überhaupt kein Verständnis für ungerechtes Leiden. Der 1. Petrusbrief ruft uns schon auf, dem Bösen Widerstand zu leisten. Es ist auch notwendig, dass wir im Einsatz für Freiheit und Gerechtigkeit Leid vermeiden oder wenigstens vermindern. Aber sehr oft können wir es nicht einfach verhindern. Was der 1. Petrusbrief uns hier sagt, kann uns vielleicht sogar zunächst geradezu ärgern, denn er nennt das ungerechte Leiden mehrfach geradezu eine "Gnade": "Denn es ist eine Gnade, wenn jemand deswegen Kränkungen erträgt und zu Unrecht leidet, weil er sich in seinem Gewissen nach Gott richtet. Ist es vielleicht etwas Besonderes, wenn ihr wegen einer Verfehlung Schläge erduldet? Wenn ihr aber recht handelt und trotzdem Leiden erduldet, das ist eine Gnade in den Augen Gottes." (2,19f)

 

Die Motivation für solche Zumutungen ist ganz eindeutig, denn bereits der nächste Satz sagt: "Dazu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt" (2, 21). Jesus Christus ist der Sündelose schlechthin. Es ist gerade der Skandal, dass der Gerechte im Sinne des heiligen Paulus zur Sünde gemacht worden ist (vgl. 2 Kor 5,21; Gal 3,13; Röm 8,3f). Das Unrecht wird hier in seiner äußersten Perversion erkennbar. Hier gibt es eine große Nähe zum Gottesknecht im vierten Lied. Das Paradox, dass der Sündelose ungerecht für die Sünder leidet, ist das Geheimnis der Erlösung. Dahinter steckt aber auch ein ganz grundsätzlicher Gewaltverzicht, der entwaffnend wirkt und alle Kategorien der Rache, der Gegenwehr, des Heimzahlens usw. fundamental entkräftet: "Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht; er litt, drohte aber nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter" (2, 23). Auch dies ist ein Hinweis auf den Gottesknecht, über den etwa gesagt wird: "Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt ... er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf ... Obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war" (Jes 53, 5.7.9b).

 

In diesem Glaubenslied der Gemeinde findet sich nun noch ein besonderer Hinweis. Es heißt nämlich, dass Jesus Christus in seinem Leiden uns ein Beispiel gegeben hat, damit wir seinen Spuren folgen. Die Einheitsübersetzung ist hier vielleicht etwas schwach ausgefallen. Es wäre vielleicht besser zu sagen: "Euch (mit dem Leiden) ein Leitbild hinterlassend, damit ihr seinen Fußspuren nachfolgt" (2,21). Offensichtlich geht es nicht nur um ein Beispiel oder auch nur ein Vorbild. Es ist wohl mehr. Es ist der Grund, auf dem wir uns recht verhalten im Leiden. Das "Leitbild" ist verpflichtend vorgegeben. Es ist kein "Beispiel" oder "Vorbild", dem man in freier Wahl nacheifert. Die Verpflichtung ist hier durch die Berufung und die Nachfolge gegeben. Das griechische Wort ist hier sehr konkret und meint die Vorzeichnung von Buchstaben, die ein Schüler nachzieht oder kopiert. Es ist also so etwas wie ein "prägendes Vorbild". Das andere Bild ist die "Fußspur" eines anderen, der man folgt. Man ahmt nicht einen Partner nach, sondern schlägt die von ihm vorgezeichnete, ja gebahnte Richtung ein. Es geht also wirklich um die Nachfolge, bei der man hinter jemand hergeht, sein Schüler wird und dadurch das Geschick teilt. Dabei geht es um eine sehr konkrete Nachfolge, die dennoch kein bloßes Kopieren im Sinne des reinen Nachahmens darstellt. Trotz der Fundierung im Leitbild Jesu muss jeder sein Kreuz auf sich nehmen. Eine Nachahmung würde nur zu einem zwanghaften Abklatsch oder zur beliebigen Abwandlung führen. Wer der "Fußspur" eines anderen folgt, begibt sich auf diesen Weg Jesu und geht ihm nach, auch wenn er das Vorbild nicht immer erreicht. In unserem Text ist auch aufschlussreich, dass hier die Nachfolge nicht nur im Blick auf die Jünger während der irdischen Zeit Jesu angesprochen wird, sondern dass man auch nach Ostern und im Blick auf die heutige Kirche von diesem "Hinterhergehen" spricht (sonst nur noch Offb 14, 4).

 

Wir werden also im Ertragen und gleichsam "Verarbeiten" des Leidens ganz eng mit Jesus Christus zusammengeschlossen. In der Taufe wird dadurch, dass wir im Sakrament Jesus Christus ganz ähnlich werden, unser Christsein begründet. Und es ist nicht zufällig, dass im 1. Petrusbrief sehr oft vom Christwerden und von der Taufe die Rede ist. Dies geschieht nicht immer ausdrücklich und direkt, aber sie sind stets der gelebte Hintergrund. In der modernen Schriftauslegung sagt man auch, dies sei der "Sitz im Leben". Nur darum kann uns auch Jesus Christus dieses Mittragen des Kreuzes zumuten.

 

Es ist nicht so leicht, in der rechten Weise von dieser Leidensbereitschaft zu sprechen. Da ist in der Geschichte auch manches etwas verzerrt worden. Der 1. Petrusbrief will kein falsches, frömmlerisches Kreuzesgerede und keine "Leidens-Christi-Mienen". Wie die Berufung des Christen liegt auch das Leiden nicht in seiner Wahl. Es geht oft um die harte Annahme einer rauhen Wirklichkeit. Dies wird vor allem in den Versen 22 – 25 wiederum mit Zitaten aus dem Gottesknechtslied Jes 53 beschrieben. Jesus Christus ist ganz dem Willen Gottes gehorsam gewesen, hat keine Sünde getan, hat nicht durch Täuschen oder trügerische Rede Gemeinschaft zerstört. Er praktizierte das Gebot der Feindesliebe (vgl. auch 3,9) und drohte nicht mit Vergeltung. Er hat unsere Sünden, d.h. unseren Widerspruch, ja unseren Hass gegen Gott leibhaftig erlitten, als der Gekreuzigte auf sich gezogen, weil er den Willen Gottes ganz, rein verkörperte.

 

Dies alles klingt sehr passiv, nach bloßem Erdulden. In der Bereitschaft, Leiden anzunehmen, gibt es auch einen solchen Gehorsam. Aber dabei darf man doch nicht stehenbleiben. Einmal geschieht durch diese Hinnahme etwas höchst Bemerkenswertes und ganz und gar Unerwartbares. Wer nämlich auf Gegengewalt verzichtet, lässt das Böse widerstandslos ins Leere laufen. Die Bosheit kann ihre vorgebliche Stärke nicht entfalten. Die Liebe schlägt listig die Macht der Gewalt, indem sie auf Aug` um Aug`, Zahn um Zahn verzichtet. Dies ist die Torheit des christlichen Glaubens. Hier steckt eine Macht, die man freilich durch nichts erzwingen kann. Sie erscheint töricht, aber am Ende wird sie siegen. Darin ist auch eine Aktivität verborgen, die man zunächst gar nicht sieht. Jetzt erst entdeckt man, wie explosiv und weltverändernd dieses kleine Wort "für euch" ist, das der 1. Petrusbrief gerade an dieser Stelle so oft zur Geltung bringt und das er so eng mit dem vierten Gottesknechtslied verbindet. Dies ist nicht einfach passiv in einem negativen Sinne, sondern darin liegt durchaus ein offensives Element: Wir sind zum Leiden berufen für die Welt, der das erlösende Leiden Jesu zu ihrem Heil bezeugt werden soll.

 

Ein anderer Aspekt weist uns nochmals auf dasselbe hin. Jesu Todesleiden hat sehr deutliche Folgen für uns. "Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot seien für die Sünden und für die Gerechtigkeit leben" (2,24). Wir sollen der Sünde abschwören, wie beim Sterben radikalen Abschied von ihr nehmen. Dies müssen wir vollziehen. Aber dies genügt noch nicht: Wir müssen "für die Gerechtigkeit leben". Dies ist wiederum ganz nahe bei Paulus: "Keiner von lebt sich selbst und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn" (Röm 14,7f).

 

Mit Recht sprechen wir darum von "Sühne", ein Wort, auf das die religiöse Rede nicht verzichten kann, so schwer wir es heute zu buchstabieren haben. Sühne kann man nicht denken ohne Stellvertretung, ohne vorbehaltlosen Einsatz für einen anderen, ganz gleich ob dieser für ein Verhalten Schuld trägt oder nicht. Auch in unserem alltäglichen Leben, selbst wenn es nicht immer explizit in einem christlichen Gewand erscheint, gibt es dieses Gesetz, dass ein anderer für uns in die Bresche tritt und im Einsatz für uns manchmal sein Leben hingibt. Es ist nicht nur Maximilian Kolbe, der für einen Familienvater stirbt, sondern es gibt auch viele namenlose Frauen und Männer, die solche Helden sind. Vielleicht kennen wir solche in unserer Umgebung, ohne dass wir dies immer bemerken. Ist vielleicht Vater oder Mutter dabei, ein Ehepartner, der still vieles mitträgt?

 

Wer sich zu Jesus bekennt, gerade auch zum leidenden Herrn, der schämt sich nicht des Evangeliums. Das Evangelium bekennen heißt, vor Gott und den Menschen nicht zuschanden werden und sich deshalb keiner noch so anstößigen Gestalt und Konsequenz dieses Evangeliums schämen zu müssen (vgl. 1 Petr 4,16; Mk 8,38). Zum Bekenntnis des Glaubens gehört die Bereitschaft, dafür auch zu leiden.

 

Es gibt ein wunderbares Bild, das dem Gottesknechtslied entnommen und hier wiederholt wird: "Durch seine Wunden seid ihr geheilt" (Jes 53, 5; 1 Petr 2,24). Dies ist eine Art Zusammenfassung. Durch die Schläge, die wir ihm zufügten, wurden wir geheilt. Gott, den wir in Jesus Christus trafen, schlug nicht zurück und stellte uns auf den Weg der Gewaltlosigkeit, in die Nachfolge Jesu.

 

Unser Lied endet wiederum mit einem weiteren Bild, das dem Gottesknechtslied von Jes 53 entnommen ist: "Denn ihr hattet euch verirrt wie Schafe" (2,25). Die Menschen erscheinen ohne eine solche Verwurzelung in der Nachfolge Jesu Christi wie orientierungslose Schafe. Dies hat gewiss auch etwas mit der heutigen, oft extremen Individualisierung zu tun. Wir verlieren uns oft deshalb, weil jeder nur in seine Richtung läuft. Schon Jes 53, 6 sagt es in unüberhörbarer Deutlichkeit: "Wir hatten uns alle verirrt, wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg." Dies ist das genaue Gegenteil von der aktiven Leidensbereitschaft Jesu für uns, für alle, ausnahmslos für alle. Darum müssen wir umkehren zu Jesus Christus, der die Spur Gottes für ein gutes Leben bereithält. Freilich, solange wir nicht zugeben wollen, dass er unsere Sünden trug, unsere Schläge erlitt, die wir seinem Leib zufügten, lassen wir uns nicht zu ihm hinkehren, weil in unserem Mund Trug bleibt.

 

Was der 1. Petrusbrief hier sagt, geht nicht auf kurzfristige Erfolge. Hier wird das Gegenteil von Aktionismus gepredigt. Aber dennoch ist gerade diese Torheit der Liebe das, was bleibt. Nur das Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt, bringt Leben und ist fruchtbar. Darum haben jene Christen, die diese Leidensbereitschaft verwirklicht haben, wenigstens ein Stück weit die Welt verändert. Der gesellschaftliche Makel gehört zu einem entscheidenden Moment des Christseins. Wenn sie die "Fremden" sind, dann gründet dies in ihrer Entsprechung zu Gott und in der Zugehörigkeit zu einer neuen Gemeinschaft. Es ist freilich keine sektiererische Abwehr von der Wirklichkeit, vielmehr erschließen sie dadurch einen neuen Zugang zur Mitwelt.

 

So kann der 1. Petrusbrief mit Recht an einer wichtigen Stelle sagen: "Liebe Brüder, da ihr Fremde und Gäste seid in dieser Welt, ermahne ich euch: Gebt den irdischen Begierden nicht nach, die gegen die Seele kämpfen. Führt unter den Heiden ein rechtschaffendes Leben, damit sie, die euch jetzt als Übeltäter verleumden, durch eure guten Taten zur Einsicht kommen und Gott preisen am Tag der Heimsuchung" (2, 11f).

 

Am Anfang erschienen die Aussagen unseres Briefes eher als weltflüchtig und geradezu lebensfeindlich, resigniert und wenig kämpferisch. Wir stehen in Gefahr, dass wir uns gerade heute ein solches Urteil rasch zu eigen machen. Wenn wir jedoch dieses Lied der jungen Kirche in seiner ganzen Tiefe auf uns wirken lassen, dann spüren wir eine neue einzigartige Kraft, die von ihm ausgeht. Hier ist etwas grundlegend Neues, das nicht überholt werden kann: die Liebe, so wie sie Jesus Christus uns vorgelebt hat. Und nur diese Liebe ist in Wahrheit und auf die Dauer weltverändernd.

 

 

 

copyright: Bischof Karl Lehmann, Mainz

 

Es gilt das gesprochene Wort

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz