Das Miteinander und Zueinander der pastoralen Berufsgruppen

Vortrag beim Geistlichen Tag der pastoralen Berufsgruppen in der Diözese Mainz am 22. Mai 2013 im Dom zu Mainz

Datum:
Mittwoch, 22. Mai 2013

Vortrag beim Geistlichen Tag der pastoralen Berufsgruppen in der Diözese Mainz am 22. Mai 2013 im Dom zu Mainz

Unser gemeinsames Treffen der pastoralen Berufsgruppen im Bistum findet zur rechten Zeit statt: 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, 40 Jahre nach der Gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer und nach einigen Erfahrungen in der Neuordnung der pastoralen Strukturen, von denen selbstverständlich die einzelnen pastoralen Berufe - in gewiss unterschiedlicher Weise - betroffen werden. Deshalb ist es gewiss auch sinnvoll, einen solchen Geistlichen Tag der Hauptamtlichen, wie wir verkürzt auch sagen können, vorzubereiten. Wir wollen dabei nicht vergessen, dass es ein Hauptanliegen unseres verstorbenen Weihbischofs Dr. Werner Guballa war, diesen gemeinsamen Tag miteinander zu begehen. Dabei ist es auch allen klar, dass wir an diesem Tag nicht die Welt verändern, aber eine schöpferische Pause einlegen, indem wir auf das, was in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, zurückblicken dürfen und zugleich aufgrund dieser Entwicklung dankbar, schöpferisch und änderungsbereit in die Zukunft schauen. Dabei blicken wir nicht in erster Linie auf uns selbst, sondern lassen uns durch ein Wort wie den Beginn von „Gaudium et spes" (Über die Kirche in der Welt von heute) aufrütteln: „Freue und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände." (Art. 1) Papst Franziskus hat uns seit seiner Wahl in vielen ermutigenden Worten die Wahrheit dieses Programms des Evangeliums überzeugend vor Augen geführt.

I. Berufsgruppen: Einheit in der Vielfalt

Wir wissen, was mit „Berufsgruppen" gemeint ist: die Priester vornehmlich in ihrer Aufgabe als Pfarrer und Kapläne, die Ständigen Diakone, die Pastoralreferenten und -referentinnen, die Gemeindereferentinnen und -referenten. Dabei wollen wir nicht vergessen, dass zu diesen Hauptamtlichen auch mehr und mehr sehr viele „Ehrenamtliche" gehören, Schwestern und Brüder als Mitarbeiter und Zeugen der christlichen Botschaft in Wort und Tat. Die nebenberuflichen Ständigen Diakone erinnern uns daran, dass es wichtige Zwischenformen dieses Dienstes gibt.

Bei aller Sorge um künftige Berufe aller Sparten dürfen wir nicht vergessen, dass wir insgesamt annähernd 1000 Angehörige pastoraler Berufe in der Seelsorge des Bistums haben; dies ist eine weit größere Zahl, als wir früher jemals hatten. Wegen der gewiss wichtigen Stellung des Priesters und damit auch des Priestermangels wollen wir dies nicht vergessen. Dabei ist zu bedenken, dass sich die Anforderungen an die Kirche wegen der Differenzierungen in der Gesellschaft und auch der Vielfalt der Lebensstile und Lebensformen unter den Christen grundlegend verändert haben. Darum werden auch neue Formen der Pastoral gesucht. Vertraute Formen müssen modifiziert werden. Vieles, was uns sehr vertraut ist, gerät in den gesellschaftlichen Sog von Veränderungen.

Wenn wir uns besonders über das Miteinander und Zueinander der pastoralen Berufsgruppen besinnen wollen, dann leitet uns zunächst ein zwar vertrautes, aber nur gering ausgeschöpftes Grundmodell, das wir nicht vergessen, sondern an den Anfang stellen wollen, nämlich Einheit in der Vielfalt. Beides muss sich gegenseitig in einem ausgewogenen Verhältnis vermitteln. Wir sind nicht nur ein Haufen gleichgültig und unabhängig nebeneinander stehender Berufsgruppen, die jeweils ohne Blick auf das Ganze ihre Interessen verteidigen. Dies ist gewiss durchaus legitim, wenn wir gleichzeitig auch auf die erforderliche, immer wieder zu suchende Einheit blicken. Diese Einheit darf nicht heimlich oder offen als Uniformität vorgestellt werden. So kämen wir nie zu einer Anerkennung echter Vielfalt. Dann schleichen sich von selbst Verhältnisbestimmungen von Unter- bzw. Überordnung ein. Aber auch die Vielfalt muss immer wissen, dass wir uns bei aller grundlegenden Pluralität und spezifischen Ausgestaltung der einzelnen Ämter aufeinander und auf ein wahres Ganzes öffnen müssen. Sonst gelingt keine wirkliche Integration. Dies ist leichter gesagt als getan. Wir spüren die entstehenden Schwierigkeiten besonders in der konkreten Kooperation im Alltag.

Wenn wir nach einem solchen konkreten Grundmodell „Einheit in Vielfalt" suchen, dann wissen wir, dass wir in der Tradition von Theologie und Kirche dafür nicht einfach oder gar leicht passende Muster finden. Die heutige Spezialisierung, Differenzierung und Strukturierung der Ämter und Dienste findet kaum übertragbare Vorbilder in einer früheren Zeit. Wenn wir solche Anregungen finden, wie z. B. eine kollegiale Amtsführung, dann sind es immer nur partielle Ausschnitte, die unsere heutige Wirklichkeit nicht ohne weiteres treffen. Dies soll aber nicht heißen, dass uns die Bibel und die vielgestaltige Überlieferung nicht Anstöße zu exemplarischen Modellen für unsere Gegenwart geben. Darauf werden wir noch zurückkommen.

II. Berufung als Fundament der Kirche und aller Christen

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir vor aller Rede über einzelne Charismen, Dienste und Ämter die Gemeinsamkeit des Christseins an die erste Stelle setzen müssen. Ich halte dies für noch fundamentaler als die Rede vom „gemeinsamen Priestertum" der Glaubenden. Wenigstens eine kurze Skizze soll hier versucht werden.

An allem Anfang steht der schöpferische Blick Gottes. Für den Menschen gilt dies in ganz besonderer Weise. Er hat uns gerufen, bevor wir im Mutterschoß herangewachsen sind und geboren wurden. „Deine Augen - so heißt es im Psalm 139 - sahen, wie ich entstand." (Vers 15) Gott schenkt uns also mit liebendem Blick unser Leben, vor allem das Mensch- und Personsein. Er verleiht unabhängig von unserem Planen und Wollen dem Menschen seine Würde.

Deshalb ist jeder Mensch einzigartig und unvergleichlich. Der graue Alltag mit den Erfahrungen von Routine und Gleichmacherei, Erschöpfung und Mangel verstellt uns oft die Sicht auf diese Einmaligkeit. Sie kommt jedoch schon in unserem Namen zum Ausdruck. Gottes Ruf ist von Grund auf schöpferisch.

Dieser Ruf Gottes erfolgt jedoch nicht nur am Anfang unseres Daseins. Er ruft uns immer wieder in unserem Leben an. Dies geschieht auf vielfache Weise: durch seine Zeichen in der Schöpfung, sein Wort in der Bibel, die Orientierungen für unser Leben in den Geboten, in der Stimme unseres Gewissens und durch manche Ereignisse, in denen Gott uns etwas wie durch einen Fingerzeig bekundet. Manchmal deuten auch andere Menschen diese Zeichen und Wege für uns. Wir selbst verstecken uns oft davor. Aber Gott sucht uns und ruft uns wie den ersten Menschen an: „Adam, wo bist du?" (Gen 3,8) Er ruft den Menschen vor sein Angesicht und spricht ihn zugleich auf seine Verantwortung an. Im Wissen um diese göttliche Berufung kann der Mensch manche Spuren von Gottes Ruf und Handeln in seinem Leben entdecken. Meistens sind es übrigens keine Aufsehen erregenden Worte, keine Sensationen, sondern Gott spricht oft auch durch kleine Prüfungen und Herausforderungen, Winke und Zeichen. Es sind unauffällige und unscheinbare Aufgaben und Dienste, an denen wir gewöhnlich eher achtlos vorübergehen, wie z. B. die Unterstützung für einen hilfsbedürftigen Menschen, ein gutes Wort zur rechten Zeit, Bereitschaft zur Versöhnung.

Diese Ansprache Gottes bezieht sich in der Bibel nicht nur auf den Einzelnen, sein Ruf gilt dem ganzen Volk. Schließlich klingt im Wort „Kirche" („ek-klesia") auch an, dass Gott selbst sein Volk aus allen Stämmen und Nationen herausgerufen und vor ihm versammelt hat. Gott bleibt gerade im Blick auf die Kirche, das Aufgebot Gottes, seinem Ruf treu: „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt." (Röm 11,29)

Dies darf freilich nicht zu einem geistlichen Hochmut führen. Dieser kann einen Menschen rasch zum Absturz bringen. Gerade in seiner Treue lässt uns Gott die Freiheit, zwischen gut und böse zu entscheiden, und so können wir auch rasch straucheln. „Wer also zu stehen meint, der gebe acht, dass er nicht fällt." (1 Kor 10,12) Wir haben die Wahrheit dieser Warnung gerade in den letzten Jahren auch für die Kirche bitter erfahren.

Die Berufung bekommt in der Bibel noch einen zusätzlichen Akzent: Durch den schöpferischen Ruf Gottes kann jemand aus seiner Welt und seiner konkreten Situation herausgerissen werden. Dies gilt auch für den Beruf, in dem man arbeitet. Man denke z. B. an die Fischer, die auf den Ruf Jesu hin ihre Netze fallen lassen und ihm nachfolgen.

Ein exemplarisches Muster der Berufung ist Abraham, der von Gott in die Unsicherheit und Gefährdung der Fremde gerufen wird: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus." (Gen 12,1) Es ist geradezu ein Aussondern, aber auch eine besondere Art der Zuwendung, ja der Vorliebe und der Erwählung durch Gott (vgl. Dtn 4,37; Jes 14,1; Ps 47; Ps 78,68; Röm 8,26-30).

Wenn Gott ruft, erwartet er eine Antwort. Dies zeigt sich sehr ausgeprägt in der Berufung Samuels (vgl. 1 Sam 3). Sie war nicht selbstverständlich. Was die Bibel von damals sagt, gilt vielleicht auch für unsere Zeit: „In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten; Visionen waren nicht häufig." (Vers 1b) Man kann den Ruf Gottes überhören und missverstehen. Aber manchmal kann ein solcher Ruf Gottes sogar mehrfach erfolgen, wie die Samuelgeschichte zeigt. Samuel gibt eine Antwort, die für alle Zeiten ein Vorbild geworden ist: „Hier bin ich, denn du hast mich gerufen." - „Rede, denn dein Diener hört." (Verse 5f. und 10).

In einer solchen Situation erfährt der Berufene zugleich Ungenügen und Ohnmacht. Die Berufungsgeschichten der Propheten zeigen uns dies am besten. So sagt Gott auf die Einwände des jungen Jeremia: „Sag nicht: Ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir, um dich zu retten ... Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund." (Jer 1,7-9)

So lehrt uns die Bibel die einzelnen Elemente und den Zusammenhang von göttlichem Ruf und von menschlicher Antwort, vom Segen und von der Sendung in Gottes Auftrag und mit seinem Wort.

In vielfacher Weise sind diese zunächst einmaligen, aber im Grunde auch für alle Zeiten maßgeblichen Berufungsgeschichten sehr verschieden erfahren, ausgestaltet und gedeutet worden. Sie finden sich aber wohl in fast allen Berufungen zu einem Dienst in der Kirche. Dies spüre ich auch heute bei den vorbereitenden Gesprächen mit den Schwestern und Brüdern, die sich dem pastoralen Dienst zur Verfügung stellen oder sich im Religionsunterricht der Hinführung von Kindern und Jugendlichen zum Glauben widmen.

Dies ergibt eine grundsätzliche Gemeinsamkeit aller im pastoralen Dienst. Wir gehören alle - vom Papst angefangen - zu dem Volk Gottes, in dem wir in der Dimension des Christseins uneingeschränkt ebenbürtig sind. Dies würde sich auch in einer genaueren Analyse des Verhältnisses von „gemeinsamem Priestertum" und „Amt" (vgl. LG 10) zeigen.

III. Ein biblisches Modell für die Integration der vielen Berufe in dem einen Dienst

Wenn man sich dem Thema des Miteinanders und Zueinanders der verschiedenen Berufsgruppen genauer nähern will, dann kann man m. E. einige hilfreiche Anstöße erhalten von der Wiederentdeckung der Bedeutung der Charismen im Leben der Kirche. Ich darf hier die wichtigsten Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils voraussetzen (vgl. LG 12, 30, 37; PO 9; AA 3, 30). Hier kann ich freilich nicht das ganze Thema der neutestamentlichen Sicht der Charismen und auch ihrer Wiederentdeckung in der Theologie, z. B. bei Karl Rahner, und im Konzil entfalten. Es geht uns hier um die Grundlegung eines Modells für eine Verhältnisbestimmung der Ämter und Dienste in der Kirche.

1. Charisma: einmalige personale Berufung und Sicheinbergen in die kirchliche Gemeinschaft

Wenn Paulus Charismenlisten anführt (vgl. 1 Kor 12,8-10; 28-30; Röm 12,6-8), dann möchte er die Fülle und Unterschiedlichkeit der von Gott der Kirche geschenkten Gaben sichtbar machen. Darum kommt es ihm auch gar nicht sonderlich darauf an, in diese Aufzählungen eine strenge Ordnung zu bringen. Ganz verschiedene Fähigkeiten kommen zur Darstellung: Formen der Lehre und Interpretation; Aspekte praktischer Hilfe: Unterstützung, bereitwilliges Geben, Ausüben von Barmherzigkeit; Gemeindeleitungsfunktionen stehen neben Prophetie und Glossolalie (Zungenreden); Sachaufgaben stehen neben Personenbezeichnungen; manchmal erscheint ein spezifischer Trägerkreis für die Dienste, manchmal auch nicht. In 1 Kor 12,28f. reiht Paulus die Charismen ohne bestimmbaren Einschnitt an die Ämter. Sie alle zusammen erscheinen unter dem Aspekt des Auftrags und der Sendung zugunsten der ganzen Kirche. In Röm 12 zielt alles auf die Einheit und Differenzierung der Charismen, wobei sich bruchlos allgemeine Bestimmungen kirchlicher Ethik (vgl. 12,9-21) anschließen. Es ist also gefährlich, zu viel in diese gewiss prinzipiellen, jedoch kontextabhängigen Aussagen hinein zu spekulieren. Manche lesen auch zu viel „Hierarchie" in diese lose Aufzählung. Dies gelingt aber nicht.

Diese Offenheit der „Listen" hat allerdings von sich selbst her schon Gewicht. Die Aufzählung wird zunächst vermutlich bewusst offengelassen für weitere Dienstleistungen. Immer handelt es sich jedenfalls um ganz bestimmte Gaben und begrenzte Aufgaben. Manche überlagern sich auch. Sicher haben die Verkündigungsdienste, die das Evangelium auslegen und weitergeben, einen gewissen Vorrang. Der unterschiedliche Kontext verweist auf ein gemeinsames Element des Charisma-Begriffs, wie ihn nun Paulus wohl zum ersten Mal entschieden theologisch ver¬wendet: Das Besondere des einzelnen Charismas wird geformt aus dem Fundus des Kirchlich-Allgemeinen. Dieses Besondere ist aber aus dem Allgemeinen nicht einfachhin ableitbar. Es gibt keine Herleitung im Sinne einer spekulativen Deduktion, aber auch keine bloß nach praktischen Gesichtspunkten. Die Kirche kann die Charismen nicht selbst nach ihren tatsächlichen oder ver¬meintlichen Bedürfnissen schaffen. Sie kann die jeweils notwendigen Aufträge nicht aus ihrem Schoß produzieren oder gleichsam bei Gott „bestellen". Das Charisma ist im strengen Sinn eine Gabe Gottes, die es freilich mit den Augen des Glaubens erst zu entdecken und wahrzunehmen gilt. Die Kirche muss sich die Charismen schenken lassen. Darum müssen wir uns vor einem Automatismus hüten, der in den von uns postulierten und produzierten Ämtern und Diensten sofort auch „Charismen" im theologischen Sinne erblickt. Ob ein solches Phänomen wirklich ein „Charisma" ist und sich als solches bewährt, wird erst in der „Unterscheidung der Geister" offenkundig. Von diesen Kriterien wird später die Rede sein.

Die Offenheit der Aufzählung der Charismen ist noch hintergründiger. Paulus möchte nämlich nicht bestimmte Kriterien, z. B. des Ansehens und der Bekanntheit, zu Wertmaßstäben über die Gültigkeit und den Rang von Charismen erheben. Er anerkennt bestimmte Gaben, aber er relativiert sie dadurch, dass er alle Gläubigen als Gnadengaben Gottes betrachtet. 1 Kor 7,7 betont ausdrücklich, dass jeder sein eigenes Charisma hat, der eine dies, der andere das. Jeder kann ein Charisma haben, auch wenn dieses sich unscheinbar in der Alltäglichkeit des Lebens verzehrt. Die Auszeichnung gerade dieser „verborgenen" Gaben des Geistes korrigiert jede Überheblichkeit herausragender Charismen. Das „Wunderbare" und „Außergewöhnliche" der Charismen wird grundlegend relativiert. Es ist darum auch fragwürdig, z. B. von „großen" und „kleinen" Charismen zu reden. Die Offenheit des Charisma-Begriffs und der Charismenlisten ist von einer fundamentalen theologischen Bedeutung. Man gewinnt den Eindruck, dass Paulus bewusst den Eindruck einer Fülle von geistgewirkten Lebensäußerungen in den Gemeinden erzeugen möchte, einerseits als Hinweis auf eine Realität, andererseits aber auch im Sinne einer idealen Wirklichkeit.

Es gehört grundlegend zum Charisma-Verständnis, dass es die einmalige Berufung des einzelnen Christen hervorhebt. Als solcher bleibt er zwar dienendes Glied am Ganzen der Kirche, aber man darf dabei die unverwechselbare Individualität nicht unterschlagen, welche den Reichtum der Fülle entfaltet. Charismen sind keine ausgestanzten und vervielfältigten Schablonen eines allgemeinen Wesens, sondern sie zeugen von dem geschichtlich-konkreten Ruf Gottes, für den jeder Einzelne ein Original ist, keine reproduzierte Kopie. Auch wenn das Charisma dem Ganzen dienen muss, so darf es in dieser von Gott geschaffenen Einmaligkeit nicht verschwinden. Genau dies aber ist der kritische Punkt im Verständnis von Charisma: Die einmalige Gabe kann sich in ihrer Unverwechselbarkeit emporheben und aufspreizen. Sie kann sich auf sich allein zurückwenden und versuchen, die Schönheit ihrer Gestalt als eigenen Glanz zum Leuchten zu bringen. Dann sind wir rasch bei den korinthischen Missständen. Charismen als Selbstzweck, gleichsam als Privataus¬zeichnung, gibt es für Paulus nicht. Jedes Charisma verpflichtet zu aktivem Einsatz im Dienst der Gemeinde. Das Moment des Außerordentlichen und Aufsehenerregenden drängt Paulus eher zurück. Das Charisma ist kein fester Besitz, sondern von Grund auf Gabe und Geschenk. Das wahre Charisma verleugnet nicht diese einmalige Berufung, aber es verdankt sich bleibend der Fülle Jesu Christi, deren Entfaltung es ist. Das Charisma ist nur dann in seiner Einmaligkeit ganz wahr, wenn es den Mut hat, sein „Privileg" demütig in das Ganze der Kirche zurückzustellen. Die theologische Spitze des authentischen Charisma-Begriffs liegt darin, dass er die Einheit des Je-Besonderen und des Allgemeinen ist. Um es gleich vorweg zu sagen: Für diese denkwürdige Einheit gibt es zwar Vorstufen und Analogien im menschlichen Leben, aber kein ausreichendes Modell. Es ist das Unvergleichliche des Heiligen Geistes, zugleich das Allgemeinste und das Konkreteste sein zu können.

2. Gegenseitige Ergänzung

„Einem jeden von uns ist die Gnade (charis) nach dem Maße verliehen, in dem Christus sie ausgeteilt hat" (Eph 4,7; vgl. 4,16; vgl. 1 Kor 7,7; Röm12,3). Das Charisma erstreckt sich bis zu den unscheinbarsten, anscheinend ganz „natürlichen" Dienstleistungen und Aufträgen. Selbst wenn ein nach außen hin sehr „natürliches" Talent oder eine „natürliche" Neigung erscheinen, die ihre Begabung für die Sache des Herrn und der Kirche einsetzen, handelt es sich um eine Gabe des Geistes. Immer ist ein ganz bestimmtes, einmaliges Maß mitgeteilt. Die jeweiligen Gaben werden im strengen Sinne „zugeteilt". Dies hat eine wichtige Konsequenz: Keiner hat die ganze Gabe des Geistes in ihrer Fülle; niemand ist schlechthin autark; Charisma bedeutet nicht unbegrenzte Selbstentfaltung; es ist immer eine sehr konkrete Aufgabenstellung. Jedes Charisma muss sich darum in das Spannungsfeld zwischen Teil und Ziel, bestimmtem Maß und umfassender Fülle einordnen. Von Hause aus ist ihm, wenn es seinem Wesen treu bleibt, eine dynamische Ausrichtung auf das Ganze zu eigen. Darum lebt das wirkliche Charisma von der Einsicht in seine grundlegende Ergänzungsbedürftigkeit und vom Austausch der Gaben untereinander.

Insofern ist es nicht zufällig, dass das Wort Dienst (-Leistungen), diakonia/diakoniai, ein austauschbares Wort für Charisma ist; es korrigiert zugleich die drohende Tendenz eines selbstgenügsamen Sich-Abschließens. Darin liegt auch begründet, warum es für Paulus von vornherein keine Lösung geben kann, welche die Einheit oder die Vielheit der Ämter und Dienste einseitig begünstigt. Es gibt nicht die autokratische Alleinherrschaft nur eines Charismas, das alle Kompetenzen und Fähigkeiten an sich zieht und aufsaugt, aber auch nicht die ungehemmte Pluralität, in der jeder nur seiner Neigung nachgeht und buchstäblich dem Eigensinn huldigt. Es gibt nur Einheit in Verschiedenheit und Vielfalt in Einheit. Beides lässt sich nur durch eine Ausrichtung auf das Ganze und die gegenseitige Fürsorge der Glieder untereinander zu einem stetigen Ausgleich bringen (vgl. zur dialektischen Zuordnung 1 Kor 12,4-6.11.12.14.19f.27; Röm 12,4).

Eine solche „Ordnung" ist nicht einfachhin vorgegeben. Sie ist nicht „natürlich". Sie kann zu dramatischen, scheinbar unlösbaren inneren, geradezu tragischen Konflikten führen. Das subtile Gleichgewicht kann empfindlich gestört werden. Es gibt keine fertigen Garantien für ein „Funktionieren". Es handelt sich um eine geistgewirkte „Ordnung". Die Mitte dieses ganzen Geschehens ist die Integration aller unverwechselbaren, einmaligen Berufungen in der Person und im Lebenswerk Jesu Christi, in dem zunächst jede sündhaft-egoistische „Besonderung" aufgehoben wird, um sich dann aus ihm und in ihm nach seinem Geist neu zu entfalten. Darum gehört zu jedem Charisma Sendung und Auftrag.

Paulus denkt praktisch und bringt das soeben Gesagte in einem Bild zur konkreten Anschauung. Er vergleicht (1 Kor 12,12-31) das Wirken der einzelnen Christen in der Gemeinde mit dem Zusammenspiel der Glieder am Körper im Gesamt des Leibes. Auch hier kann sich kein Glied verselbständigen. „Wären alle zusammen nur ein Glied, wo bliebe dann der Leib? So aber gibt es viele Glieder und doch nur einen Leib. Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich bin nicht auf dich angewiesen. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht." (1 Kor 12,19-21) Die Rede vom Leib ist freilich nicht nur eine äußerlich angewendete Metapher, sondern sie weist hin auf den Leib Christi in der dreifachen Bedeutung dieses Wortes:
- Ein solcher Geist entspringt dem Tod des Herrn, darin dieser seinen Leib für die vielen dahingibt.
- Daraus entsteht erst Kirche, d. h. der Leib Christi.
- Die Kirche lebt vom dahingegebenen Leib des Herrn, d.h. von der Eucharistie.
Erst vor diesem vollen Hintergrund wird das von Paulus angedeutete Modell seine ganze Bedeutungskraft entfalten können: „Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm" (1 Kor 12,27). Nur vom Kirchesein her nach dem Maß Jesu Christi und im Leben mit der Eucharistie gibt es geistliche Einheit und Vielfalt der Dienste und Ämter in der Kirche.

3. Kriterien des Zusammenwirkens der Charismen

Das Leitbild gegenseitiger Ergänzung erscheint geradezu utopisch. Zwar wird eine Gleichheit aller Gaben gefordert, aber das Herausbilden unterschiedlicher Verantwortlichkeiten ist zugleich unübersehbar. Auf die latenten Konflikte wurde bereits hingewiesen. Paulus kümmert sich nicht um diese Zweifel, sondern er entwirft aufmunternd und ermahnend ein konkretes, gewiss auch bewusst ideal entworfenes Bild vom Zusammenwirken der Geistesgaben in Einheit und Vielfalt. Wenn man seine situationsbezogenen Ausführungen in einer lockeren Systematik zu ordnen versucht, kann man zu einigen Kriterien kommen, die eine Unterscheidung der Geister ermöglichen.

a) Der Geist Gottes als Ursprung

Das Zusammenwirken der vielen Dienste und Ämter entspringt nicht nur dem Bedürfnis einer sinnvollen Kooperation oder gar den Anforderungen einer bloßen Kosten-Nutzen-Rechnung. Dahinter steht auch nicht einfach das Idealbild einer wohltemperierten Harmonie zwischen verschiedenen Fähigkeiten, auch nicht ein Spielmodell optimaler Organisation. Selbst wenn später der „Nutzen" der Gemeinde ein entscheidendes Kriterium sein wird, so darf dies nicht einfach pragmatisch verstanden werden. Das Zusammenwirken der vielen Charismen in Einheit und Verschiedenheit wird zuletzt vom Geist getragen. Der Gottesgeist vereinigt gegensätzliche Bestimmungen, wie z.B. die konkret-geschichtliche Verwirk¬lichung und die universale Bedeutung, das einmalige Engagement und den unverzichtbaren Dienst am Ganzen. Der Geist vermittelt den Gott des Friedens und der Ordnung in die lebendige Gemeinde hinein, ohne darum alles gleichzuschalten. Der Geist entspringt dem Tod des Herrn: Nur aus der Hingabe des eigenen Lebens, aus Verzicht und Selbstbegrenzung ergibt sich das Heil aller; unmittelbare Selbstverwirklichung verliert sich; Selbstbescheidung ist Voraussetzung für Kooperation. Nur wenn alle, wie die Schrift sagt, „geistliche", d. h. vom Geist bewegte Menschen sind (vgl. z.B. Gal 6,1), ist ein solches Zusammenwirken der verschiedenen Dienste und Ämter möglich. Allein der Geist ist der lebenspendende Ursprung dieser Kooperation. Kommunikation und Geist gehören ganz eng zusammen. Je mehr Einheit in diesem Ursprung gegeben ist, umso unterschiedlicher dürfen die Gaben wirken. Man braucht dann nicht bei jedem Windhauch um die kirchliche Einheit oder um die Vollmachten der Ämter zu zittern. Das Charisma braucht jedoch auch einen weiten Geist, der sich nicht selbstherrlich versteift, sondern sich für die Einheit des Ganzen verschwenden kann.

b) Das christologische Bekenntnis als Fundament

Es ist für Paulus nicht von vornherein ausgemacht, dass „Charismen" jeweils rechte Gaben des Geistes sind. Außerordentliche Fähigkeiten können auch anders, z. B. sogar dämonisch bedingt sein (vgl. 1 Kor 12,2f.). Jeder kann sich zunächst auf einen unüberprüfbaren Geistbesitz berufen. Darum tut eine inhaltliche Unterscheidung not, ob die Geister wirklich aus Gott sind (vgl. 1 Kor 12,10; 1 Joh 4,1; 1 Tim 4,1). Geistesäußerungen werden daran geprüft, ob sie Jesus als den Herrn der Welt und des Lebens bekennen. Darum wird in 1 Kor 12,3 auf die fundamentale Bekenntnisaussage „Herr ist Jesus" verwiesen. In Röm 12,6 wendet Paulus diese prinzipielle Ein¬sicht auf die Gabe der prophetischen Rede an, denn sie soll in „Übereinstimmung mit dem Glauben" stehen, in Entsprechung zum Bekenntnis der Kirche. Zweifellos sind damit „Glaubensformeln" gemeint, welche eine inhaltliche Bestimmung der christlichen Verkündigung und Lehre darstellen. Es wird auch vorausgesetzt, dass diese Übereinstimmung nachprüfbar sein muss. Jedes Charisma ist also, wo immer es zum Einsatz kommt, dem Glauben der Gemeinde verpflichtet. Alle Dienste und Ämter der Kirche haben ihr grundlegendes Maß am Credo der Kirche.

c) Der „Aufbau" der Gemeinde als Kriterium

Die Gemeinde ist „Gottes Bau" (vgl. 1 Kor 3,9). Gott schafft letztlich das lebendige Gefüge der Kirche. Dies geschieht jedoch nicht ohne diejenigen, die das Fundament legen und darauf weiterbauen. Für Paulus ist dies zunächst die Aufgabe des Apostels, der den Auftrag zu dieser Tätigkeit vom Herrn empfängt (vgl. 2 Kor 10,8; 13,10; 12,19). „Auferbauung" ist ein Bild für die Gründung, Bewahrung und Förderung der christlichen Gemeinde. Dies ist das entscheidende Kriterium, das auch alle Dienste und Ämter in der Kirche leiten muss. Die „Auferbauung" der Kirche ist die zentrale Korrektur für alle Tendenzen, die sich absondern, nur ihren eigenen Wegen nachgehen oder sich gar aufblähen. Dieses Kriterium bringt egozentrisches Sichselbstproduzieren und jeden um sich kreisenden Individualismus in eine Krise, weil alle Charismen auf ihren konstruktiven Beitrag für alle hingeordnet werden. „Auferbauung der Gemeinde" ist die umfassendste pastorale Kategorie für alle Dienste und Ämter. Dies ist die fundamentale „Erbaulichkeit", ein Wort, das vor allem in der Neuzeit extrem individualisiert, privatisiert und internalisiert wurde. Dabei hat der Einzelne zunächst die Initiative: Jeder muss sein eigenes Werk prüfen (vgl. Gal 6,4). Kein Charisma ist von dieser grundsätzlichen Aufforderung ausgenommen: „Einer richte den anderen auf, wie ihr es schon tut" (1 Thess 5,11). Alles muss überprüft werden, ob es wirklich oder nur vermeintlich „erbaut". Nicht alles, was erlaubt ist, hat auch schon konstruktiven, aufbauenden Charakter. Leicht kann einer unter vielen Vorwänden, bewussten und weniger bewussten, eine Auferbauung der Gemeinde im Sinne haben - vielleicht sogar guten Glaubens -, die in Wirklichkeit keine ist. „Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf" (1 Kor 10,23). Man kann in diesem grundlegenden Sinn in der Auferbauung der Gemeinde den „Nutzen" eines Dienstes und einer Aufgabe sehen. Pausenlos misst Paulus die Dienste und Gaben der Kirche daran (allein sieben Mal in 1 Kor 14). Die „Auferbauung" der Gemeinde ist das Mittel, durch das die Gemeinschaft der Gläubigen das Ziel erreichen soll. Die Gemeinde ist nicht einfach eine fertige Größe, vielmehr wird sie in einem zielgerichteten Prozess der eschatologischen Vollendung in der Liebe entgegengehen. Darin spiegelt sich auch das Verhältnis von Kirche und Reich Gottes.

d) „Dienst" als Vollzugsform und Gestalt

Paulus ist unerbittlich, wenn es um Grenzziehungen gegenüber individualistischen Bestrebungen in der Gemeinde geht. Die Behandlung der Zungenrede in 1 Kor 14 ist nur ein Beispiel dafür. Aber es handelt sich dabei nicht um ein Pochen auf einen vordergründigen „Nutzen" jeglicher Aktivität oder gar um einen pastoralen Utilitarismus. Das innerste Motiv allen Wirkens ist die Dienstgesinnung nach dem Maß Jesu Christi, der nicht gekommen ist, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen (vgl. Mk 10,45). Dies gilt gerade für alle Formen der Ausübung von Autorität, die nie in Weisen der Anmaßung und Omnipotenz ergehen darf, sondern ihr eigenes Maß in der stetigen Bindung an Jesus Christus hat. Dies bezieht sich nicht nur auf das Bekenntnis zu Jesus Christus, sondern zeigt sich auch in der Form und Gestalt allen Tuns: Die Person tritt hinter dem Auftrag zurück, sie verleugnet sich gleichsam zugunsten der Sache. Auch wenn es Abstufungen in der Autoritätsausübung gibt, so ist das gemeinsame Arbeiten am selben „Werk" in gegenseitiger Ergänzung das unersetzliche Fundament. Umgekehrt steht „Autorität" nicht einfach im Gegensatz zu „Dienst", aber dies gilt nur, wenn das Amt auch eine Dienstgestalt hat. Auferbauung und Dienst sind die beiden ergänzenden Kriterien für jedes pastorale Tun. Dies alles ist im Wort von der „Dienstgemeinschaft" zusammengefasst, viel bedeutungsvoller als nur ein Schlüsselwort des kirchlichen Arbeitsrechts.

d) Die Liebe als alles relativierende, letzte Norm

Die Kriterien werden zusammengefasst in der Liebe. Sie ist das letzte Maß der Auferbauung und des Dienstes. Viele Charismen können erst in der Feuerprobe uneigennütziger Liebe erweisen, ob sie wirklich „nützlich" sind. Ja, die praktische Ideologiekritik der Charismen bei Paulus geht so weit, dass nur die Liebe die Charismen zu Gaben der Gnade macht. „Doch die Erkenntnis macht hochmütig, die Liebe dagegen baut auf" (1 Kor 8,1). Die Liebe ist dabei nicht nur die Motivation für das Tun. Sie ist vielmehr jene Kraft, die alles trägt und von der aus auch alles relativiert wird. Wo die Liebe fehlt, nützen daher alle Dienste und Ämter, alle Charismen und Gaben nichts mehr: Zungenrede und Prophetie sind bloß noch „tönendes Erz und klingende Schelle" (1 Kor 13,1), geschäftiger Apparat und seelenloser „Betrieb". Die Liebe ist auch darum die letzte Norm, weil alle Dienste und Ämter vorläufig sind. Sie erweisen ihre wahre Nützlich¬keit nur dann, wenn sie etwas beigetragen haben zur Liebe, die als einzige bleibt (vgl. 1 Kor 13,13). Von der Liebe her werden darum alle anderen Kriterien geläutert und gereinigt. Dies gilt sogar für das Charisma des Bruderdienstes, der von ihr auf letzte Echtheit durchleuchtet wird. „Der Mensch gibt sich und sein Gut ja manchmal hin, um der Liebe zu entgehen. Aber auch Heroismus ist nichts ohne Liebe. Das ist ein äußerst kritischer Satz gegen jedes kirchliche oder weltliche soziale Unternehmen und gegen jeden kirchlichen und weltlichen Confessor. Er nötigt alles Tun und erst recht jede Proklamation solchen Tuns, selbstkritisch zu sein bis ins Letzte. Die Maßstäbe des Apostels sind andere als die unseren. Nicht mehr Genialität, Ergriffenheit, Heroismus der Hingabe, nicht mehr Enthusiasmus und Charismatikertum entscheiden, ob Wirkliches geschieht und die Kirche erbaut wird, sondern dies, dass einer den verborgenen überschwänglichen Weg der Liebe geht." (H. Schlier, Nun aber bleiben diese Drei, Einsiedeln 1971, 84f.) „Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, aber die Liebe nicht hätte, nützte es mir nichts" (1 Kor 13,3). Kein Amt und kein Dienst ist darum schon in Ordnung, weil es bloß „funktioniert". Man kann sich wohl kein Kriterium der Kriterien denken, das unsere Dienste und Ämter in eine bessere Krisis bringt, d.h. vor die Unterscheidung der Geister. Die auferbauende Liebe ist das einzige, was jenseits der Charismen ist.

IV. Dynamische Transparenz in der Berufung und in den Berufen

Dies zeigt, wie wir viele Kategorien in der Beschreibung unserer Dienste und Ämter spirituell und theologisch hinterfragen müssen. Es braucht hier wirklich eine authentische Unterscheidung der Geister. Man kann dies auch z. B. aufzeigen an verschiedenen Grundbegriffen. „Hierarchie" kann ein sehr unevangelisches Wort werden, wenn man es nicht in Bezug bringt zur Gesinnung Jesu als des Mannes, der den Aposteln die Füße wäscht und damit sich wie ein Sklave verhält, der in einem guten Hause den Gästen den Schmutz der Welt entfernt. Aber auch das Wort vom Dienst befreit uns nicht von Verkehrungen. Hegels Dialektik von Herrn und Knecht kann uns zeigen, dass der Diener sich auch in einer sublimen Form zu einem verborgenen Herrn aufschwingen kann, wenn er seinen Herrn in einer höchst problematischen Weise von sich abhängig macht. Gegen eine solche Perversion des Dienstes ist niemand gefeit, auch der unterste Rang nicht.

Wenn man Berufung im Sinne dieses Beitrags versteht, dann wird dieser Begriff auch durchlässig für eine Bewegung in ihr selbst. Man kann ja, wenn man überhaupt seine Berufung entdeckt und wahrnimmt, sich fragen, ob man seinen Dienst auch noch anders gestalten kann. In einer einfachen Form kennen wir dies, wenn z. B. ein Pastoralreferent Ständiger Diakon wird oder ein lediger bzw. verwitweter Ständiger Diakon sich zum priesterlichen Dienst entschließt. Aber es gibt solche Änderungen der Berufung auch dann, wenn junge oder ältere Menschen sich fragen, ob ihre bisherige berufliche Tätigkeit, ob innerhalb oder außerhalb der Kirche, nicht nach einem größeren Engagement ruft. Dies kann man aber nur entdecken, wenn man überhaupt seine grundlegende Berufung als Christ wahrnimmt und dann in sich hineinhört, ob man nicht auch noch zu anderen Formen des Dienstes gerufen ist. Dies kommt m. E. heute öfter vor, gerade auch wenn Einzelne ihren weltlichen Beruf aufgeben, um im vollen Umfang ihres Lebens einen kirchlichen Beruf auszuüben (vgl. Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit 2012 „Berufen auf verschiedenen Wegen", 10ff.).

Ich bin mir bewusst, dass eine solche gemeinsame Grundlegung aller Dienste und die vorurteilsfreie Anerkennung jedes einzelnen Dienstes in seiner Qualität und Würde, gerade auch der sogenannten rangniedrigeren Dienste, auch heute noch auf viele Hindernisse stoßen, die der aufgezeigten Sicht entgegenstehen. Nicht zuletzt deshalb haben wir auch die „Seelsorgestudie 2012/13" mit der Befragung aller pastoralen Berufsgruppen in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse werden uns heute in einer ersten Übersicht vorgestellt. Dann werden wir auf solche Hindernisse in der gleichwertigen und ebenbürtigen Einschätzung aller Dienste stoßen. Viele sind uns schon aus dem Alltag bekannt. Wir werden dann, wenn wir diese Erkenntnis noch sichern und vertiefen können, mit aller Entschiedenheit diese Störungen in unserem Verhältnis abzubauen versuchen. Dies erfordert neue Überlegungen, an denen wir alle beteiligen wollen. Aber es steht auch fest, dass wir dies nicht ohne theologische und spirituelle Reflexion und vor allem die nötige Umkehr erreichen werden.

Ich komme wieder zum Anfang zurück. Wir sind alle zum Zeugnis für Gott und seine Liebe zu den Menschen berufen. Jede Berufungsgeschichte ist einmalig, dauert ein ganzes Leben und kann viele Abschnitte und Stufen haben. Gott kann noch andere und weitere Wege für uns bereithalten und öffnen. Wir sollten auf diesen vielfachen Anruf Gottes hören. Der selige John Henry Kardinal Newman hat uns dafür ein eindringliches Gebet geschenkt, mit dem ich schließen möchte:

„Ich bin berufen, etwas zu tun
oder zu sein,
wofür kein anderer berufen ist;
ich habe einen Platz
in Gottes Plan und auf Gottes Erde,
den kein anderer hat.
Ob ich reich bin oder arm,
verachtet oder geehrt bei den Menschen,
Gott kennt mich
und ruft mich bei meinem Namen."

Dies ist auch das oft übersehene oder wenigstens geringgeschätzte Fundament aller Dienste und Ämter in der Kirche Jesu Christi.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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