Die Würde des Menschen am Ende seines Lebens

Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zur Eröffnung der Woche für das Leben am 24. April 2004 in Aachen (Karlsdom)

Datum:
Samstag, 24. April 2004

Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zur Eröffnung der Woche für das Leben am 24. April 2004 in Aachen (Karlsdom)

Der Mensch ist von der Erde genommen und kehrt wieder zur Erde zurück. Er hat Anfang und Ende. Alle Träume von einer Lebensverlängerung kommt daran nicht vorbei. Dies steht schon auf der ersten Seite der Bibel. Aber dies heißt nicht nur, dass es einmal aufhört. Wenn Christen mit anderen Menschen sagen, dass sie begrenzt und sterblich sind, verfallen sie nicht in Resignation, Bitterkeit und Ironie. Wir erfahren dabei eine Grenze. Eine Grenze hat immer zwei Dimensionen. Wir stoßen an sie und können von ihr zurückgeworfen werden. Dies gilt besonders angesichts der großen Fortschritte der Medizin mit ihren faszinierenden Erfolgen. Manchmal erwarten wir, dass darum auch unsere Träume vom unbeschädigten und von einem endlosen Leben in Erfüllung gehen. Dadurch entsteht wiederum ein Anspruchsdenken: Was irgendwie möglich erscheint, muss auch faktisch in jedem Fall eingeklagt werden können. Um so größer bleibt die Enttäuschung, wenn der Tod siegt. Zuletzt erweist es sich doch, dass der Tod mächtiger ist. Dies ist für den Menschen gerade angesichts seiner Erfolge schwer zu ertragen. Er kann trotzig werden und sich gegen seine Begrenztheit rebellisch auflehnen. Da ist es wichtig, dass „Grenze“ noch eine andere Bedeutung hat. Wir fragen uns nämlich immer wieder, ob es auch etwas jenseits der Grenze gibt.

Vieles von dem, was zur Vorbereitung der diesjährigen „Woche für das Leben“ und in ihr gesagt wird, hat damit zu tun. Ich möchte nur einem Aspekt etwas genauer nachgehen. Der biblische Glaube versteht unsere Endlichkeit von der Kreatürlichkeit her. Dies ist nicht einfach gleichzusetzen mit Kontingenz oder Beschränktheit. Sie können pure Faktizität und sinnlose Zufälligkeit gleichsam am Rande der Welt bedeuten. Ekel und Überdruss sind bekannte Antworten darauf. Kreatürlichkeit ist eine ganz andere Kategorie. Das Geschöpf weiß, dass es nicht sein muss und doch ist. Die Kreatur grenzt an das Nichts, ohne einfach nichtig zu sein. Dies führt zu einem ständigen Verweis auf Gott als letzten Urheber des Geschöpfes, das ihm ähnlich und zutiefst unähnlich zugleich ist. Was nicht sein muss, aber doch ist, stellt uns vor die Frage: Warum? Die Antwort kann sich in Staunen verwandeln, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Gerade so gelangen wir auch zur Erfahrung der Grundlosigkeit der Schöpfung. Sie ist uns heute in einem Zeitalter, in dem wir sehr vieles nach unserem Willen planen und nach unseren Ideen konstruieren können, schwerer zugänglich. Unser eigenes Können verstellt uns den Zugang zu dem, was schon längst hinter unserem Rücken geschah. Aber es gibt vermutlich doch noch elementare und fundamentale Erfahrungen, in denen wir das unverdiente Geschenk des Lebens ahnen können: In der Freude bei der Geburt eines Menschen oder in der unverfügbaren Liebe zwischen Menschen, wo man uneingeschränkt bekennen kann: „Es ist gut, dass es dich gibt!“

Das Geschöpf ist nicht nichts. Schon durch seine Existenz und sein Wirken hat es eine eigene Wirklichkeit. Aber diese ist ihm immer schon geliehen. Die Kreatur hat Eigenwert und Selbstständigkeit, weil sie von Grund auf innerlich offen ist auf ihre letzte Herkunft. Das Geschöpf verkapselt sich nicht in sich selbst. Obwohl das Geschöpf in sich selbst etwas Positives ist, ist es nicht einfach selbstgenügsam. Es gelangt mehr zu seiner Vollkommenheit, wenn es seine „Armut“ annimmt, alles von einem anderen zu empfangen und sich in ihm zu vollenden. Bezogen sein auf Gott ist kein Defekt, sondern die höchste Möglichkeit. In dem Augenblick in dem die Kreatur diese ihr zutiefst eigene Demut verkennt und sich absolut auf sich stellt, wird sie anmaßend, weil sie das ihr zugedachte Maß nicht annimmt. In dieser Verweigerung der Annahme kreatürlicher Armut liegt die Wurzel dessen, was man Sünde nennt.

Nun heißt dies sicher nicht, dass der Mensch in der Schicksalhaftigkeit seiner individuellen oder kollektiven Naturausstattung gefangengesetzt werde. Er darf und soll nicht bloß die Kräfte der Natur, sondern auch der Vernunft gebrauchen, um nicht bloß die Defekte der faktischen menschlichen Natur zu heilen, sondern auch, um die unvermeidbare Grenze des Lebens erträglich zu machen und – freilich im Rahmen der Kreatürlichkeit – auch über die bisherigen Marken hinauszuschieben. Aber diese Versuche einer Überwindung der „Grenze“ dürfen nicht insgeheim von einer Erwartung ausgehen, die aufgezeigte Kreatürlichkeit des Menschen könnte grundsätzlich aufgehoben werden. Es gibt hier gewiss von der schlichten Verdrängung des Todes bis hin zu Träumen von einem Leben ohne Altern und Sterben viele solcher und ähnlicher Grundeinstellungen.

Kreatürlichkeit bedeutet so bei allem Kampf gegen Leid und Krankheit, dass diese zum menschlichen Leben gehören. Dies gilt besonders auch für das Leiden, den Schmerz und das Sterben. Sie gehören zu uns und sind ein Teil des Lebens. Wir brauchen sie freilich nicht über uns einfach hereinbrechen zu lassen, wie ein Sturzbach. Wir sind wirklich aufgerufen, sie zu heilen oder wenigstens erträglich zu machen. Das ist ein Unterschied zu der Versuchung, etwa den Vorgang des Sterbens von Außen steuern und manipulieren zu wollen. „Wir regeln den Eintritt ins Leben, es wird Zeit, dass wir auch den Austritt regeln.“, schreibt Max Frisch in seinem Tagebuch. Hier kommen immer wieder verführerische Ideen auf. Man denke etwa an das Mitleid mit den „sinnlos Leidenden“. Aber ein Mitleid, das nicht bereit ist, den Weg mit dem sterbenden Menschen zu gehen, kann sich auch als wenig human erweisen. Es versteht sich von selbst, dass unerträgliche körperliche Schmerzen jede Leidensfähigkeit beeinträchtigen. Die Bekämpfung dieser Schmerzen ist unter Umständen die Voraussetzung für eine menschliche Bewältigung des Leidens. Die Nähe des Todes gibt dem Menschen auch eine letzte Chance: Sie stellt ihm die Ganzheit seines Lebens vor Augen und fragt ihn, ob er die Möglichkeit seines Lebens ausgelotet und auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft habe. Nur der Tod stellt im Ernst die Frage, ob man sein eigens Leben noch einmal leben wollte. Mancher Sterbende hat sich in dieser Stunde mit seinen Familienangehörigen ausgesöhnt, hat alte mitmenschliche Schuld abgetragen und ein neues, versöhntes Verhältnis zu seiner Mitwelt gefunden. Wahres Mit-Leid geht einen solchen Weg geschwisterlich mit, trägt einen solchen Prozess des Sterbens mit und leidet die Reinigung eines menschlichen Lebens mit aus. Es wäre unmenschlich, diese menschliche Möglichkeit ganz zu verhindern. Zur Endlichkeit und Kreatürlichkeit gehört auch die Erfahrung der Schwächeseiten des menschlichen Lebens. Hat am Ende nur der Gesunde und Aktive ein volles Recht zu leben?

Darum wollen wir Hilfe im Sterben leisten, aber nicht Hilfe zum Sterben, wenn damit eine direkte Herbeiführung des Todes gemeint ist. Es gibt trotz aller Probleme im einzelnen Fall den ethisch bedeutsamen Unterschied zwischen Tötung und Sterbenlassen. Entscheidend ist der Verzicht auf eine eigenmächtige, definitive und totale Verfügung über menschliches Leben, die z.B. über den Sinn bzw. Wert menschlichen Daseins und über Art und Zeitpunkt des Sterbens entscheidet. Eine unerlaubte „Manipulation“ des menschlichen Todes besteht in einem doppelten Vorgang. Jede vorzeitige, direkte und gewollte Beendigung des Lebens ist ein sich Vergreifen am unantastbaren Recht des Menschen auf sein Dasein. Eine unerlaubte Manipulation ist es aber auch, eine mit allen Mitteln medikamentöser oder technischer Art erzwungene, menschlich aber sinnlos gewordene Lebensverlängerung erreichen zu wollen. Der technisch verzögerte Tod darf nicht den Sieg über das menschliche Sterben davontragen.

Zur Kreatürlichkeit gehört noch ein wichtiges Element. Ihre Erfahrung sollte nämlich auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient, zwischen dem Kranken und dem Pflegepersonal bestimmen. Alle Partner sind durch die Annahme des gemeinsamen Menschseins und der Erfahrung seiner Grenzen miteinander verbunden. Dies schafft eine elementare geschwisterliche Solidarität, die ein Stück weit unabhängig ist von der konkreten Situation des Einzelnen, der gesund oder krank ist. Diese elementare Solidarität im Tragen des selben Menschengeschicks sollte sich im Miteinander-Sprechen und Miteinander-Handeln bekunden. Das rein Funktionale des ärztlichen Handelns muss in diese menschliche Grundbeziehung eingebettet sein. So kann die Not und Hilfsbedürftigkeit des Kranken besser Rücksicht finden, aber auch die menschliche Würde des Lebens und Sterbens hat ein gemeinsames Fundament, das verhindern sollte, dass der Kranke einfach zum „Objekt“ wird oder dass der Patient nur Leistungen fordert.

Wir sprachen am Anfang von der doppelten Bedeutung der Grenze. Wir haben bis jetzt weitgehend die diesseitige Grenzerfahrung erkundet. Die Grenze lässt aber immer schon etwas jenseits ihrer selbst ahnen. Was kann uns beruhigen in der benunruhigenden Situation, vor die der Tod uns stellt? Zum Leben gehört offenbar ein Überschuss an Erwartung, der vom Leben schlechterdings nicht zu befriedigen ist, sondern uns von Erfüllung zu Erfüllung treibt. Diese Sehnsucht reicht weiter als jedes einzelne Glück. Wenn es aber in diesem Leben nicht das letzte Glück des Menschen gibt, dann hat die Glaubensentscheidung viel Vernunft auf ihrer Seite. Es ist sinnvoll zu glauben, eine letzte Hoffnung zu haben, die in Erfüllung geht. Darum erhellen sich Tod und Leben auch gegenseitig. Wir dürfen nie vergessen, dass wir Staub sind und wieder zu Staub werden. Wie Menschen das Sterben und den Tod erfahren, hängt viel davon ab, worin sie den Sinn ihres Lebens sehen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz