Die Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums deuten

Fastenpredigt am 17. Februar 2013 im Mainzer Dom innerhalb der Reihe zur Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes" des Zweiten Vatikanischen Konzils

Datum:
Sonntag, 17. Februar 2013

Fastenpredigt am 17. Februar 2013 im Mainzer Dom innerhalb der Reihe zur Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes" des Zweiten Vatikanischen Konzils

Das Zweite Vatikanische Konzil hat eine vielfache Öffnung über die Römisch-Katholische Kirche hinaus vollzogen. Man kann von drei besonders ausgeprägten Bewegungen dieser Öffnung sprechen: Zuwendung zu den Quellen des christlichen Glaubens, Begegnung mit den nichtkatholischen Christen und Aufnahme des Dialogs mit der „Welt". Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, zitiert nach den Anfangsworten „Gaudium et Spes", war der letzte Beschluss des Konzils. Bis in die letzten Tage wurde beraten und daran gearbeitet. Der Text war und ist das umfangreichste Dokument, das je ein Konzil verabschiedet hat. Er ist in der Fragestellung und Methode ungewohnt und neu, sodass die Beratung und Formulierung besonders schwierig war. Er hat auch wohl am meisten Kritik von allen Konzilstexten erfahren, schon in der Aula des Konzils, und erst recht in der Zeit nach 1965. Nicht wenige haben dieses Dokument, das unter großem Zeitdruck erarbeitet und verabschiedet wurde, verantwortlich gemacht für die tiefgreifende „Krise", die das Leben der Kirche in der Folgezeit erschüttert hat. Im Übrigen gibt es acht verschiedene Gesamtfassungen des jeweils gründlich überarbeiteten Textes. Allein im letzten Vierteljahr wurden für die abschließende Beschlussfassung 20.000 Abänderungsvorschläge eingereicht und einzeln beraten.

I. Das Werden der Pastoralkonstitution

Das Entstehen der Pastoralkonstitution hängt engstens mit der Geschichte des Konzils selbst zusammen . Dieses Dokument war von der Vorbereitungskommission nicht geplant, obgleich diese 70 sogenannte „Schemata" erarbeitet hatte. Dieser Beschluss war der einzige Entwurf, den Papst Johannes XXIII. ausdrücklich gewünscht hatte . Es ist darum nicht verwunderlich, dass die Arbeit an diesem Text nur langsam in Gang kam. Als am Ende der ersten Sitzungsperiode im Dezember 1962 die 70 Entwürfe auf 17 reduziert wurden, hieß das letzte Vorhaben „Über die wirksame Präsenz der Kirche in der Welt" . Darum hatte es lange den Namen „Schema XVII".

Das Vorhaben gehörte zu den Grundaufgaben des Konzils. Bald zeigte sich eine fundamentale Korrelation zwischen der Meditation der Kirche über ihr eigenes Wesen und ihrer Öffnung auf die Fragen und Nöte der gegenwärtigen Welt hin. So war schon zu einem frühen Zeitpunkt offenbar geworden, dass die beiden großen Themen „Ecclesia ad intra" und „Ecclesia ad extra" - so schon im ersten Programm von Kardinal Suenens - einander wie Brennpunkte einer Ellipse fordern und brauchen .

Das genannte Spannungsverhält¬nis war nicht ohne Probleme, aber es war typisch für die Situation: Man musste von einer Kirche ausgehen, die sich in den Kämpfen und Schwierigkeiten der Neuzeit durch Verteidigungsstellung und Rückzug einigermaßen unversehrt bewahrt hatte, dafür aber die lebendige Begegnung mit der jeweiligen zeitgenössischen Kultur und den gesellschaftlichen Fragen eher eingebüßt hatte. Der neuzeitliche Katholizismus war eine feste Burg geworden, die im Inneren der Kirche den wahren Glauben und eine organisatorische Schlagkraft bewahrte, dennoch aber von den großen kontroversen Lebensproblemen der Moderne sich eher abgeschnitten empfinden musste . Im Grunde kann man fast alle großen Herausforderungen zwischen Glaube und Kultur, Kirche und Gesellschaft in der Neuzeit als elementare Konfliktsituationen zwischen Bewahrung der Identität und Dialogfähigkeit mit der Welt beschreiben, angefangen vom Galilei-Konflikt bis zu den erbitterten Kämpfen um das Heimatrecht der kritischen Methode in der Theologie während der Modernismus-Krise zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

So hatten sich bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in immer neuen Schüben viele Konflikte angestaut: Verhältnis zur Demokratie, Gewährung von Religionsfreiheit, Antwort auf soziale Fragen, neue philosophische Probleme, Rolle des mündigen Laien, Naturwissenschaften und Theologie, Einschätzung der Technik und Verhältnis zur modernen Zivilisation. Wenn zwischen den verschiedenen Bereichen nicht mehr unmittelbare Feindschaft herrschte, so bestimmten Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Misstrauen das Verhältnis. Es war eigentlich ganz unkatholisch, dass ein Dualismus zwischen einer sich sorgsam abschließenden Kirche und einer sich selbst überlassenen Welt die Grundfigur des Verhältnisses bestimmte. Hans Urs von Balthasar hat schon viele Jahre vor dem Konzil von einer „Schleifung der Bastionen" (Einsiedeln 1952) gesprochen und damit zehn Jahre zuvor genau das Hauptproblem des geplanten Konzilsdokumentes getroffen.

Die Idee, das Ganze der aktuellen Fragen christlicher Orientierung in der Welt von heute in einem großen und neuen Entwurf zusammenzufassen, erwies sich von Anfang an als ein ungewöhnlich gewagtes Unternehmen. Einer fast narzisstischen Binnenorientierung sollte missionarische Öffnung entgegengesetzt werden. Statt autoritärer Verfügung setzte man auf Dialog. An die Stelle des Pochens auf eigene Rechte und Privilegien trat Dienst. Soziale Zweckmäßigkeit sollte eingegrenzt werden durch den Vorrang des Personalen. Ein abstrakter Naturbegriff sollte nicht mehr vorherrschend sein, sondern der unbefangene Blick auf die konkrete Wirklichkeit des Menschen und der Geschichte. Besonders heikle Diskussionsthemen waren das Verhältnis der Kirche zum technischen Fortschritt und die Beziehung der christlichen Hoffnung zur fortschreitenden Umgestaltung der Welt. In diesen Themen sammelte sich in einer bestimmten zeitgeschichtlichen Situation die Frage nach der Versöhnung von Christentum und Modernität. Dabei traten die Fragen der Armut in der sogenannten Dritten Welt und der Friedenssicherung für die Menschheit in den Vordergrund. Von der Kirche her musste die Beziehung zur zeitgenössischen Kultur und zu den modernen Wissenschaften neu formuliert werden.

Der Vorbereitungsprozess dieses Entwurfs war jedoch aus sehr vielen Gründen ungewöhnlich schwierig. Die Probleme erwuchsen zunächst dem Zweifel, ob denn ein ökumenisches Konzil, das ja in der Tradition der Kirche gewöhnlich nur über dringend aufgegebene und strittige Sachverhalte des Glaubens bzw. der Lehre und der Kirchendisziplin entscheidet, sich mit sehr umkämpften gesellschaftlichen, politisch relevanten und kulturellen Fragen beschäftigen dürfe, und dies notwendigerweise mit lehramtlicher Autorität.

Es gab kaum Modelle für ein solches Dokument. Am ehesten kann man den gewandelten Stil der neueren Enzykliken der Päpste Johannes XXIII. „Pacem in terris" (1963) und Paul VI. „Ecclesiam suam" (1964) zum Vergleich heranziehen. Man konnte überhaupt schon die Vorfrage stellen, woher denn das Lehramt die Kriterien aus den Quellen kirchlichen Sprechens nehmen soll, um in kontroversen und konflikthaltigen Auseinandersetzungen der heutigen Welt bindende Orientierungen zu geben. Zur Lösung solcher Fragen war auch die theologische Wissenschaft nicht gerade ausreichend vorbereitet. Einerseits war eine verhältnismäßig abstrakte und geschichtsenthobene Betrachtung der menschlichen „Natur" vorherrschend, andererseits verlangte nicht nur die biblische Denkweise mit neuen Ergebnissen Berücksichtigung, sondern auch empirische Daten drängten sich in den Vordergrund. So entstand ein gewisses Ringen um die Integration von dogmatischen Überlegungen und empirischen Erkenntnisweisen. Die moraltheologischen Themen standen gewissermaßen zwischen diesen Spannungen. Auch auf einem anderen Gebiet tat man sich trotz besten Willens schwer: Man redete zwar über zentrale Belange der modernen Welt, aber ziemlich spät zog man wenige ernsthaft kompetente Laien zur Beratung der Entwürfe heran.

Diese Aporien zeigten sich bereits von Anfang an. Die Gemischte Kommission aus den jeweils selbstständigen Kommissionen für die Glaubens- und Sittenlehre und für das Laienapostolat war zunächst mit 60 Mitgliedern viel zu groß. Die meisten und wichtigsten Mitglieder der Theologischen Kommission waren in den ersten Konzilsperioden durch die intensive Arbeit an den Konstitutionen „Lumen gentium" und „Dei Verbum" sowie am Ökumenismus-Dekret „Unitatis redintegratio" so in Anspruch genommen, dass die gleichzeitige Sorge um diese besonders schwierige Aufgabe zurücktrat. Man tut auch den großen Theologen des Konzils kein Unrecht an, wenn man einerseits auf eine gewisse Ermüdungserscheinung aufmerksam macht und andererseits ein gewisses Misstrauen feststellt, das von Anfang an gegenüber der theologisch etwas weniger tiefen Orientierung jener Mitglieder und auch Verfasser bestand, die wissenschaftlich eher empirisch ausgerichtet waren. Gerade die deutschsprachige Theologie, die mit den französischen Fachleuten in der Erarbeitung der großen dogmatischen Texte federführend war, hatte zwar eine korrektive Funktion im Blick auf die einzelnen Textstufen, war aber viel weniger produktiv beteiligt. Die Front zwischen „Progressiven" und „Konservativen" (Integralisten, Kurialen) galt nicht mehr in der bisherigen Konstellation. Die Gruppe der Fortschrittlichen begann sich selbst zu differenzieren. Neue Fronten, die erst in der Zeit nach dem Konzil sich vollends formieren sollten, traten langsam in Erscheinung.

Alle diese Schwierigkeiten konnten nicht verhindern, dass im Ganzen nach vielen Textstufen ein überraschend guter und differenzierter Gesamttext zustande kam. Die Überarbeitungen waren jeweils sehr einschneidend. Die verschiedenen Stationen der Erarbeitung des Textes sind mit den Namen Mechelen, Rom, Zürich und Ariccia verbunden. In der Zwischenzeit hieß das Dokument „Schema XIII", denn die Zahl der Beschlüsse musste nochmals reduziert werden. Im April 1965 tauchte zum ersten Mal der Begriff „Pastoralkonstitution" auf, der in der wichtigen Anm. 1 des Vorwortes im endgültigen Text von „Gaudium et Spes" erläutert wird. Von der fast unermesslichen Arbeitslast kann man sich ein Bild machen, wenn man allein an die 20.000 Abänderungsanträge denkt, die in der letzten Phase der Überarbeitung des Textes bewältigt werden mussten.

Schon damals waren einzelne einflussreiche Konzilsväter erbitterte Gegner gerade dieser Konstitution. Ein Vorspiel der späteren Traditionalisten-Bewegung zeigte sich am Horizont, das man freilich nicht so ernst nahm. Die feierliche Schlussabstimmung ergab am 7. Dezember 1965 - einen Tag vor der feierlichen Schlusssitzung des Konzils - 2309 Ja- gegen 75 Nein-Stimmen. Vielleicht kann man als Synthese einige Sätze aus dem IV. Kapitel des ersten Teils anführen: „Zugleich ist sie (die Kirche) der festen Überzeugung, dass sie selbst von der Welt, sei es von einzelnen Menschen, sei es von der menschlichen Gesellschaft, durch deren Möglichkeiten und Bemühungen viele und mannigfache Hilfe zur Wegbereitung für das Evangelium erfahren kann" (Art. 40). Von besonderer Wirkung erwies sich das Prooemium des Beschlusses mit den Titelworten: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände" (Art. 1).

II. Die Zeichen der Zeit erkennen und beurteilen

Die bleibende Neuheit des christlichen Glaubens muss freilich immer wieder gefunden werden. Dies ist nur möglich, wenn man sich den jeweiligen Herausforderungen stellt. Man möchte wissen, welche Stunde geschlagen hat. So kommt es darauf an, die Zeit anzusagen und darin die entscheidenden Herausforderungen zu entdecken und zu formulieren. Die Menschen haben immer nach Signalen und erkennbaren Merkmalen dafür gesucht. Sie haben Ausschau gehalten nach Anzeichen für die Nähe oder Ferne von Glück und Heil, Katastrophen und Unheil. Dabei war immer auch deutlich, dass es sich um Zeiten gewichtiger Entscheidungen handelt, und dass man zum folgerichtigen Handeln kommen muss, solange noch Zeit ist. Die Dringlichkeit der Aufgaben hatte so immer auch Anteil an der eschatologischen Struktur der Geschichte: Was ist am meisten geboten in unserer Zeit? Und wie viel Zeit haben wir noch dazu? Wann kommt das Ende?

Man hat sich dabei an verschiedenen „Zeichen" orientiert. Es waren besonders schreckliche Ereignisse der Geschichte, große Krankheiten und Naturkatastrophen, Sonnenfinsternis und Meteoritenfall, die den Weg wiesen. Ihre Wiederkehr war ein weiteres wichtiges Zeichen. Aber auch die Natur wurde von ihrem Schöpfer her durchsichtig auf das, was Gott in der konkreten Situation vom Menschen erwartete.

Darum haben wir auch schon im Neuen Testament Hinweise auf so etwas wie „Zeichen der Zeit". Jesus spricht zu einer großen Menschenmasse und möchte sie zu einer entschiedenen Umkehr aus dem Glauben führen: „Außerdem sagte Jesus zu den Leuten: Sobald ihr im Westen Wolken aufsteigen seht, sagt ihr: Es gibt Regen. Und es kommt so. Und wenn der Südwind weht, dann sagt ihr: Es wird heiß. Und es trifft ein. Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten, warum könnt Ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten? Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?" (Lk 12, 54ff., Mt 16,3).

Das Zweite Vatikanische Konzil hat im Rückgriff auf diese Aussagen und andere Anregungen gefragt, wie man diese „Zeichen der Zeit" erkennen und vor allem sie beurteilen könne. Es ist nicht zufällig, dass gerade die Einführung zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes" diese Frage stellt. Sie will ja betont der Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen nachgehen. So heißt es: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in der jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben." (GS 4, vgl. auch 11) Laien und Priester sollen gemeinsam - wenn auch jeweils nach ihrer Erfahrung und Kompetenz - diese Zeichen der Zeit verstehen (vgl. PO 9 und AA 14).

Dies ist freilich leichter gesagt als getan, denn zwei Dinge stehen von Anfang an fest: Die „Zeichen der Zeit" sind erstens nicht eindeutig und bleiben damit in ihrer wirklichen Bedeutung schwer interpretierbar. Darum ist es auch zweitens konsequent, dass man die Antwort des Glaubens auf die „Zeichen der Zeit" nicht als ohnmächtige Anpassung an das, was ist, verstehen darf, sondern es braucht eine „Unterscheidung der Geister", um zu einigermaßen klaren Kriterien zu kommen.

Es gibt viele Zeichen der Zeit. Der Streit darüber, was wichtig ist, ist unvermeidlich. Es war nicht zuletzt Papst Johannes XXIII. selbst, der den Mut hatte, drei wichtige solcher Zeichen exemplarisch aufzugreifen: die Armut vieler Völker und ihre Entwicklung, die gleiche Würde der Frau und die Verteidigung und Durchsetzung der Menschenrechte. Man kann dies anreichern und aktualisieren, aber sicher sind es auch heute noch elementare Herausforderungen.

Das Zweite Vatikanische Konzil selbst hat an verschiedenen Stellen, ohne systematisch vorgehen zu wollen, einzelne Zeichen der Zeit genannt, darunter die liturgische Erneuerung (SC 43), das Verlangen nach Einheit der Christen (UR 4), die wachsende internationale Solidarität (AA 14), die Forderung nach Religionsfreiheit (DH 15) sowie die den Laien eigenen Gaben und Fähigkeiten bei der Deutung der Zeichen der Zeit (PO 9). Es ist fast selbstverständlich, dass das Konzil selbst in der Aufzählung nicht nur unvollständig, sondern auch ganz offen ist. Dies hängt im Übrigen auch damit zusammen, dass der Begriff „Zeichen der Zeit" selbst im Konzil mehrdimensional gebraucht wird. Er bezeichnet gelegentlich eine soziale und politische Wirklichkeit als solche; manchmal werden wichtige und hoffnungsvolle Aufbrüche in dieser irdischen Realität gemeint; nicht selten denkt man offensichtlich aber auch an eine Methode der Deutung von „Zeichen der Zeit" und eines gezielten Engagements. In der gegenwärtigen Pastoraltheologie spricht man gerne von einer „Kairologie", welche die pastorale Situation im Blick auf die Gesellschaft, die Kirche und den Einzelnen zugleich theologisch und humanwissenschaftlich im Sinne einer daraus sich ergebenden Gegenwartsanalyse betrachtet, um dadurch zu Urteilskriterien und Handlungsimpulsen zu gelangen. Gewiss sind diese Aspekte in ihrem Verhältnis untereinander noch nicht umfassend geklärt, was freilich auch gelegentlich zu Missverständnissen führt.

III. Ambivalenz in der Modernität

Mit solchen Überlegungen kommen wir schon sehr in die Nähe der Diskussion über das Schicksal der Moderne. Bereits eine solche Wortprägung wie „postsäkular" bzw. „postmodern" zeigt dies deutlich. Überhaupt fällt ja auf, wie in den letzten Jahrzehnten eine überaus intensive Diskussion über die Bewertung der Moderne eingesetzt hat. Es genügt, fast wahllos einige Titel zu skizzieren: Der Tod der Moderne, Die Schuld der Moderne, Der Fundamentalismus der Moderne, Konsequenzen der Moderne. Schließlich gehört in diesen Zusammenhang auch - wie schon angedeutet - die Rede von der Postmoderne.

Es ist hier nicht möglich, auf diese Thematik einzugehen. Man hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Moderne selbst dialektisch strukturiert ist, wie schon die Aufklärung zeigt, und dass sie ein „unvollendetes Projekt" darstellt, wie J. Habermas formuliert hat. In diesem Sinne kommt alles darauf an, den Verlaufsprozess und die innere Abwandlung von „Moderne" zu verfolgen.

In diesem Zusammenhang ist ein Thema aufgetaucht, das philosophisch und theologisch Aufmerksamkeit verdient. Der in England lehrende Sozialwissenschaftler Zygmunt Bauman hat sich sehr intensiv mit dem Thema der Ambivalenz in der Postmoderne beschäftigt. Er fragt sich, warum die Moderne ihre Versprechen nicht einlösen konnte. Seine Antwort geht dahin, dass sie sich eine unlösbare Aufgabe gestellt habe: absolute Wahrheit, reine Kunst, Humanität als solche, Ordnung, Gewissheit, Harmonie, das Ende der Geschichte. Der Anspruch der Moderne, die unversöhnliche Moderne, die Welt durchschaubar zu machen, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dies komme daher, weil dieser Anspruch die grundsätzliche Ambivalenz der Welt und die Zufälligkeit unserer Existenz, unserer Gesellschaft und unserer Kultur geleugnet habe. Alle Versuche, diesem Anspruch zu entkommen, haben zu einem Teufelskreis geführt und mitgeholfen, alles Ambivalente zu vernichten. Bauman erklärt auch den Nationalsozialismus und den Holocaust in dieser Richtung.

Erst die Postmoderne habe sich von dem Versprechen verabschiedet, eine übersichtliche Welt zu schaffen. Bauman versteht die Postmoderne als „illusionslose Moderne", befreit von falschem Bewusstsein, unrealistischen Vorstellungen und Zielsetzungen. Diese Desillusionierung biete jedoch die Chance zu einer „Neuverzauberung" der Welt. In ihr haben auch Gefühle und das Unerklärbare eine Existenzberechtigung. Wer die Zweideutigkeit der menschlichen Existenz beheben will, raubt dem Menschen seine Freiheit und Unergründlichkeit. Tolerant kann nur der sein, der die Ambivalenz alles Menschlichen anerkennt. Dann können auch Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus vermieden werden. Das Unbehagen, das sich in der Moderne bekundet, stammt aus einer Sicherheit, die zu wenig Freiheit zulässt; das postmoderne Unbehagen entsteht aus der Freiheit, die zu wenig Sicherheit garantiert.

Dem Unbehagen kann man nicht entgehen. Nicht zufällig sieht Bauman immer wieder in dem „Ende der Eindeutigkeit" ein Kennzeichen der Postmoderne. Es gibt keine Bilanz mehr ohne Verlustseite. Die „Umwertung der Werte" muss immer wieder nüchtern auch die Rück- und Nachtseite allen sogenannten Fortschritts bekennen. So bietet auch jede Entscheidung unabänderlich die Gefahr des Scheiterns. Die Postmoderne zeigt also ein doppeltes Gesicht: Sie ist zugleich Fluch und Chance der moralischen Person. Die Verantwortung des Handelnden ist fundamentaler und grundlegender als jemals zuvor. Aber die Zerrissenheit des gesellschaftlichen Kontextes und der unterschiedlichen Lebensinteressen stellen uns immer wieder vor dieselben Ausweglosigkeiten. Bauman plädiert deshalb für den Abschied von den Prinzipien. Dies deckt sich mit anderen Postulaten, dass das Ende der alten Gewissheiten gekommen sei. Dieses Thema „Ambivalenz und Ambiguität" ergänzt ein anderes wichtiges Thema des postmodernen Denkens, nämlich „Differenz und Pluralität".

Hatte Descartes das Ideal des Denkens im „clare et distincte" gesehen, wie es dann vor allem in der modernen Wissenschaft zum Höhepunkt gelangte, so erblickt das postmoderne Denken eine eigene Fruchtbarkeit in der Anerkennung von Ambivalenz und Ambiguität. Sie seien nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft zu tolerieren. Die Einschränkung der Eindeutigkeit entlasse auch eine produktive Vieldeutigkeit. Dies sei ein Gewinn, um die Sinnfülle und Multidimensionalität von Wirklichkeit, damit auch den Reichtum der Geschichte zu erfassen.

Es ist nicht möglich, hier eine ausreichende Auseinandersetzung zu führen. Aber es ist auch deutlich geworden, dass diese Konzeption bei allen kritikwürdigen Details nicht unwichtige Anknüpfungspunkte bringt für das Gespräch mit Religion und Theologie, auch wenn Bauman selbst wenig auf dieses Thema zu sprechen kommt. Alle idealistischen Übersteigerungen werden gebrochen. Die Vielfalt und Vieldeutigkeit der geschöpflichen Wirklichkeit kann unverstellt an den Tag kommen. Die endliche Wirklichkeit erscheint in ihren Spannungen und Aporien. Die Mehrdeutigkeit offenbart bis zur Widersprüchlichkeit die dunklen Seiten gerade auch der menschlichen Realität. Dadurch zwingt Bauman das Denken, sich auch der Brüchigkeit des menschlichen Lebens zu stellen. Dies muss man feststellen, auch wenn man die Ethik Baumans, die eine radikale Individualisierung mit sich bringt, kritisch beurteilt. Er findet kaum mehr zur Anerkennung allgemein verbindlicher Maßstäbe.

Hier ergeben sich, gewiss nicht unmittelbar, Ansatzpunkte für das Gespräch mit religiöser Erfahrung. Die Phänomene, um die es hier geht, haben durchaus etwas mit der Beschränktheit, der Kreatürlichkeit des Menschen und der Gebrochenheit seiner Existenz zu tun. Man kann unschwer auch die tiefe Zwiespältigkeit menschlichen Tuns eruieren und auch in gewissen Grenzen verstehen. Zugleich wird die ganze Brüchigkeit des menschlichen Daseins erkennbar, das nicht zuletzt durch die Endlichkeit des Menschen, aber eben auch durch seine Verwundung in Folge der Ursünde und durch sein inneres Zerfallensein gegeben ist. Hier sehen wir die Kreatürlichkeit des Menschen in allen Dimensionen und nicht zuletzt das, was die klassische theologische Anthropologie „Konkupiszenz" nennt. Damit ist auch gegeben, dass es weniger undialektisch neutrale Situationen gibt, sondern dass sie immer schon konkret spirituell und ethisch von Vorentscheidungen bestimmt sind. Darum werden Kategorien wie „Entscheidung" und „Entschiedenheit" noch wichtiger als bisher. Schon das Konzil von Trient hatte bei der Umschreibung der „Konkupiszenz" deutlich gemacht, dass sie nur im „Kampf", im Ringen mit den widrigen Kräften aus uns selbst und um uns herum bestanden werden kann (vgl. DH 1515f.). „Es ist dem nachparadiesischen Menschen nicht vergönnt (und eigentlich auch nicht zugemutet), seine positive Entscheidung gegen die ursprünglichen Tendenzen seiner Weltsituation adäquat durchzusetzen. Seine Entscheidung bleibt je gestreut, sich selbst in den letzten Auswirkungen verweigert und verhüllt, fragwürdig; ja, er wird in diesem ‚Kampf' - ohne eigentliches Gnadenprivileg - auch immer wieder unterliegen, d.h. faktisch sündig werden." Freilich bedarf es dazu noch einer gewaltigen theologischen, aber auch philosophischen Arbeit.

Man kann gewiss in diesem Phänomen der Ambivalenz auch die anderen Zeichen der Zeit erkennen, von denen die Rede war. Alle Phänomene zeigen den Prozesscharakter und die Dialektik des menschlichen Wesens und des Weges in der Geschichte. Darum ist es wichtig, den „Ort" und die Bewegungsform der Kirche in dieser Gegenwart zu umschreiben und daraus weiterführende Imperative für das Handeln zu gewinnen. Dies wird in den folgenden Predigten fortgesetzt.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz