Kirche - wohin gehst du?

Eine Orientierung zur Diskussion um den Weg nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil

Datum:
Mittwoch, 18. Februar 2009

Eine Orientierung zur Diskussion um den Weg nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil

Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Am 25. Januar 2009 waren 50 Jahre vergangen, seit Papst Johannes XXIII. überraschend das Zweite Vatikanische Konzil einberufen hatte. Fast auf den Tag genau begann eine heftige Diskussion über die Gültigkeit dieses Konzils auch heute. Ausgelöst wurde diese Auseinandersetzung durch die Aufhebung der Exkommunikation der vier unerlaubt zu Bischöfen geweihten Mitglieder der Pius-Bruderschaft. Es ist geradezu ein tragisches Zusammentreffen: die Freude der Erinnerung an die Ausrufung des Konzils und zugleich eine erbitterte Auseinandersetzung um seine Bedeutung. Dies nötigt uns zu einem kurzen Rückblick, auch wenn ich sonst den Hirtenbrief zur Österlichen Bußzeit nicht zur Erörterung tagesaktueller Begebenheiten benutze. Die Wogen gingen jetzt aber besonders hoch. Darum mag eine vertiefte Erklärung nützlich sein.

I.         Der Aufbruch durch das Konzil

Das Erste Vatikanische Konzil der Jahre 1870/71 war seinerzeit nicht abgeschlossen worden; nicht zuletzt Kriege verhinderten dies. Als Johannes XXIII. im Januar 1959 das Zweite Vatikanische Konzil einberief, griff er manche Überlegungen und Pläne seiner Vorgänger auf, das Erste Vatikanum abzuschließen. Inzwischen war eine andere Zeit angebrochen. Man empfand die Einstellung und Mentalität des neuzeitlichen Katholizismus vielfach als eng und gettohaft. Viele Bewegungen in der Kirche vor allem des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel der biblischen und liturgischen Erneuerung, suchten mit neuen theologischen Impulsen einen Aufbruch in weitere Horizonte. Im Gefühl der Befreiung, das oft damit verbunden war, hat man freilich zum Teil übersehen, dass die Disziplin und Geschlossenheit der Kirche in der Neuzeit sie vor einem Sichanpassen und Überrolltwerden durch die Moderne bewahrt hatte, auch wenn sie dadurch gewiss in mancher Hinsicht in ihrer Dialogfähigkeit gelähmt war. Viele Aufbrüche waren auch nicht die Ergebnisse allein moderner Bemühungen, sondern die Frucht der Erneuerung durch eine Wiederentdeckung der Schätze aus der ganzen Geschichte der Kirche. Insgesamt war der Aufbruch im Sinne einer kritischen Öffnung zur Moderne hin und einer erhöhten Dialogfähigkeit mit der heutigen Welt zweifellos notwendig.

 

II.        Eine falsche Entgegensetzung

Diese gewiss nicht einfache Aufgabe führte recht bald zu relativ unversöhnlichen Gegensätzen. Es gab eine Kluft zwischen „Konservativen" und „Progressiven". Das Konzil selbst hat durch viele Bemühungen immer wieder eine verbindliche Mitte für alle gefunden. Man wehrte sich gegen den Verlust der wertvollen Schätze aus der Tradition, war aber zu einer tiefen Erneuerung des Ererbten bereit. Dies zeigte sich besonders in der Reform der Liturgie. Die vielfältigen Auseinandersetzungen waren nicht leicht, da man oft von starren Positionen ausging und das faire innerkirchliche Ringen miteinander mühsam wieder lernen musste. Schließlich kamen auf diesem Weg in vier Jahren 16 richtungsweisende Verlautbarungen des Konzils zustande, denen die beteiligten Bischöfe in einem hohen Maße zustimmten. Dafür sind wir heute noch dankbar, denn viele Menschen, gerade auch jüngere, erlebten diesen Aufbruch als einen Frühling der Kirche und engagierten sich in ihr mit neuer Freude.

Jedes Konzil braucht Zeit zur Einwurzelung in den Teilkirchen auf der ganzen Welt. Dies gilt auch für das Zweite Vatikanische Konzil. Nach 1965 war seine angemessene Umsetzung auch deshalb nicht leicht, weil weltweit in Gesellschaft und Kultur - man denke an das Jahr 1968 - viele grundlegende Erschütterungen, radikale Zweifel und massive Absagen an alle Tradition aufkamen. Dies hat sich auch in der Kirche niedergeschlagen und eine kontinuierliche und ruhige Aufnahme der Konzilsbeschlüsse zum Teil empfindlich gestört. Manches wurde nun vergröbert und radikalisiert. Einige beriefen sich auf den „Geist" des Konzils und glaubten, das Konzil selbst sei nur der Anfang noch viel radikalerer Veränderungen. In einer manchmal blinden Begeisterung verachtete man den „Buchstaben" des Konzils, also den konkreten Wortlaut seiner Verlautbarungen. Das Konzil war sich selbst der Aufgabe bewusst gewesen, dass erneuernde Elemente mit der überkommenen Tradition noch stärker vermittelt werden mussten; es konnte und brauchte aber diese Vermittlung nicht selbst zu leisten. Deswegen darf man sich sicher auch die Frage stellen, ob die eine oder andere Formulierung des Konzils einschließlich mancher praktischer Beschlüsse im Einzelnen ganz geglückt war.

 

III.      Die gesprengte Einheit

In dieser Zeit sind manche Gruppierungen immer stärker auseinandergetreten und haben das vermittelnde Gespräch miteinander aufgegeben. So kam es zu Parteiungen, die es in dieser unversöhnlichen Form in der Kirche nicht geben sollte. Die einen glaubten, sich von fest zur verbindlichen Überlieferung gehörenden Einsichten, Normen und Bräuchen lösen zu können, und warfen manches, was für die Kirche und für viele Menschen kostbar war, über Bord. Sie verloren ihre kritische Sensibilität, wurden einfach mehr vom Zeitgeist als vom Evangelium abhängig. Dies wiederum reizte andere Gruppierungen, die die Treue zum ererbten Glauben mit Festhalten an allem Althergebrachten gleichsetzten und dadurch in Gefahr gerieten, auch sinnvolle, erlaubte und in manchem notwendige Erneuerungen pauschal abzulehnen.

Obwohl die Päpste und zahlreiche Bischöfe nach dem Konzil immer wieder versuchten, die auseinanderstrebenden Kräfte in die gemeinsame Mitte zu führen - was in vielem auch gelungen ist -, so blieben doch einige radikale Splittergruppen, die sich dieser Gemeinsamkeit verschlossen haben. Im Kern waren dies wohl nicht so viele, aber sie fanden Sympathisanten, die in einzelnen Fällen über den Verlust von ihnen Liebgewordenem trauerten und über manche radikale Änderungen, die oft unerlaubt und disziplinlos geschahen, entsetzt waren. Im deutschen Sprachgebiet haben wir den nötigen Ausgleich in den 70er Jahren durch verschiedene Synoden von Laien, Priestern, Ordensangehörigen und Bischöfen versucht. Doch es gelang nicht immer, alle auseinanderstrebenden Gruppen in dem einen Boot der Kirche zu halten.

In diesem Zusammenhang kam es zur Bildung, Abkapselung und späteren Abspaltung einer größeren Gruppe um den französischen Missions-Erzbischof Lefebvre, die sich 1969 im Anschluss an Papst Pius X., der sich Anfang des 20. Jahrhunderts gegen modernistische Verfälschungen des Glaubens gewandt hatte, „Priesterbruderschaft St. Pius X." nannte. Diese lose Gemeinschaft bildete einen Kreis von Menschen, die nicht nur mit der kirchlichen Entwicklung unzufrieden waren, sondern auch nicht selten mit gewissen traditionellen kulturellen, gesellschaftlichen und auch politischen Strömungen verflochten waren. Der Streit ging nicht nur um liturgische Reformen, vor allem um die Reform der Messe, sondern er erstreckte sich auch auf die Verneinung und Verweigerung gegenüber anderen Konzilsaussagen: vor allem zur Kollegialität der Bischöfe, wodurch man die päpstliche Autorität gefährdet sah; zur Ökumene, in deren Bemühungen man einen Verrat an der Wahrheit erblickte; zur erklärten Religionsfreiheit, die man als Aufgabe des eigenen Wahrheitsanspruchs und als Förderung religiöser Gleichgültigkeit verstand, sowie überhaupt zur Zuwendung zur Moderne, die als Verrat der Distanz zur „Welt" erschien. Diese Themen blieben in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch oft eher im Hintergrund.

Zum Bruch mit der Lefebvre-Bewegung kam es im Jahr 1988, als viele Bemühungen um eine volle Rückkehr der Lefebvre-Anhänger überraschend damit endeten, dass Erzbischof Lefebvre ohne Zustimmung des Papstes vier Priester gültig, aber unerlaubt zu Bischöfen weihte. Damit war die kirchliche Einheit gesprengt.

 

IV.       Zur Aufgabe des Papstes in einer solchen Situation

Der heutige Papst Benedikt XVI. hatte als Präfekt der Glaubenskongregation von seinem Vorgänger Johannes Paul II. den Auftrag zu einer Wiederherstellung der kirchlichen Einheit erhalten. Diese konnte natürlich nicht um jeden Preis erreicht werden. Es war eine große Enttäuschung für Kardinal Joseph Ratzinger, dass Erzbischof Lefebvre die lange Zeit mit ihm gesuchten und vereinbarten Leitsätze für eine Aussöhnung nicht unterschrieb. Doch er sah es auch weiterhin als seine Aufgabe an, die Aussöhnung mit den Anhängern des 1991 verstorbenen Erzbischofs Lefebvre anzustreben, insbesondere, nachdem er zum Nachfolger Petri gewählt worden war. Es gehört ja zum Grundauftrag eines Papstes, dass er gerade mitten in Gefährdungen der Einheit die Gemeinschaft der Gläubigen zusammenhält und die Einheit zurückgewinnt, wo sie verletzt ist. Dies darf selbstverständlich nicht unter einer Preisgabe verbindlicher Gemeinsamkeit geschehen. Aber es ehrt jeden Papst, wenn er leidenschaftlich und auf allen legitimen Wegen den Verlust an Gemeinschaft verhindert und in die Irre gegangene Mitglieder wieder zurückzugewinnen bestrebt ist.

Der Papst hat durch die Aufhebung der Exkommunikation, die nicht zu verwechseln ist mit einer Rehabilitierung und noch keineswegs die volle Wiederaufnahme in die Kirche bedeutet, eine äußerste Einladung an die Lefebvre-Bewegung, ganz besonders ihre vier Bischöfe, gerichtet. Schließlich hatten sie ja auch ihren Ausschluss aus der Kirche in offenbar mehreren Briefen, zuletzt vom 15. Dezember 2008, bedauert.

Man verkennt völlig die Einstellung von Papst Benedikt XVI., wenn man sein Verhalten an anderen Maßstäben misst als seinem Auftrag zur Sorge um die Einheit der Kirche. Er ist kein verkappter „Traditionalist" oder ein geheimer Förderer der Lefebvre-Bewegung. Absurd ist es geradezu, seine Treue zum ganzen Zweiten Vatikanischen Konzil anzuzweifeln, wo er doch einer der wenigen noch lebenden Konzilstheologen ist und auch in der Zeit nach dem Konzil sich immer zum recht verstandenen Vatikanum II bekannte. Ganz zu schweigen von den Vorwürfen einer unklaren Stellung zum Antisemitismus und zur Leugnung des Holocaust. Die unsäglichen Äußerungen eines der führenden Vertreter der Pius-Bruderschaft, Bischof Williamson, haben mit dem Kern des bisher beschriebenen Konfliktes in der Kirche nichts zu tun. Das Zusammentreffen der beiden Dinge - die Aufhebung der Exkommunikation und das Bekanntwerden der Holocaust-Leugnung durch Bischof Williamson - war besonders unglücklich. Die Haltung der Päpste und gerade auch von Papst Benedikt XVI. gegen jede Form von Antisemitismus war immer schon eindeutig. Sie ist auch in den letzten Wochen über jeden Zweifel erhaben.

Dass der Papst mit der Aufhebung der Exkommunikation einen Schritt des äußersten Entgegenkommens gewagt hat, zeigt seinen Mut. Es ist ein Schritt, der sehr verletzlich macht, wenn die Angesprochenen eine solche extreme Geste nicht annehmen. Hier kann ich in manchen Worten und im Verhalten der sogenannten Pius-Brüder nur eine Beleidigung und höhnische Zurückweisung dieser Einladung des Papstes sehen. Ich erinnere an Aussagen, dass dies alles nicht genüge. Rom müsse nun weitergehen und Buße tun. Man lasse nicht ab von den radikalen Bedenken gegenüber dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Indem man Bischof Williamson bei der geforderten Zurücknahme der Leugnung des Holocaust eine längere Frist zugestand, trieb man dieses unmögliche Verhalten weiter auf die Spitze.

Entgegen manchen Pressemeldungen und nicht wenigen Zuschriften habe ich selbst in der ganzen Auseinandersetzung nie die Haltung des Papstes selbst kritisiert, sondern ihn in dem, was er in Sorge um die Einheit der Kirche getan hat, in Schutz genommen. Wohl aber habe ich bedauert, dass das Management der Kurie im Umgang mit der Öffentlichkeit innerhalb und außerhalb der Kirche nicht besser im Stande war, den Papst selbst mit seinen Absichten zu schützen, rasch auf Missdeutungen zu reagieren und in solchen Konflikten zuverlässig die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese Kritik, die inzwischen von vielen geteilt wird, halte ich aufrecht, auch wenn ich mich dazu hier und auch in einer größeren Öffentlichkeit nicht weiter äußern will. Ich habe eine jahrzehntelange Erfahrung, um dies behaupten zu können.

 

V.        Was nun?

Die Kirche ist in den letzten Wochen durch die Art und Weise, wie dieser Konflikt in die Öffentlichkeit getragen und dort zumeist behandelt wurde, schwer erschüttert worden. Manches verdanken wir - wie gesagt - auch unserer eigenen Ungeschicklichkeit. Dabei will ich jedoch nicht übersehen, dass es zahlreiche schiefe und aggressive Meldungen in den Medien gab, die nicht nur auf Unzulänglichkeiten in unseren eigenen Reihen zurückgeführt werden können. Kein Wunder, dass alte, der katholischen Kirche gegenüber wenig freundlich eingestellte Positionen zu neuem Leben erwacht sind.

Dies alles soll uns nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Ich bitte Sie alle, bei der Beurteilung dieser Vorgänge nicht kurzsichtig zu werden und Schlagworten zu verfallen. Ich danke allen, die in diesen Wochen inmitten aller Aufgeregtheiten Ruhe und Gelassenheit bewahrt haben und die keine übereilten Maßnahmen, wie zum Beispiel einen Kirchenaustritt, ergriffen haben. Diejenigen, die dies jedoch bereits getan haben, kann ich nur bitten, ihren Entschluss zu überdenken und wieder zurückzukehren.

Wie soll es weitergehen? Es besteht kein Zweifel, dass das Zweite Vatikanische Konzil uns eine erneuerte und vertiefte Vision der Kirche geschenkt hat. Dass diesem Verständnis auch die überzeugende Verwirklichung folgt, ist immer noch eine Aufgabe, und zwar für alle. Wenn die Kirche den ihr vom Zweiten Vatikanischen Konzil vorgezeichneten Weg geht, vor allem wenn sie ihn mutig und folgerichtig geht, wird sie nichts von ihrer bisherigen großen Tradition verlieren. Im Gegenteil. Die Kirche wird ihr Katholischsein voller und lebendiger ausprägen, als es oft in den vergangenen Jahrhunderten möglich war. Ein tieferes Verständnis des Konzils ist eine große Aufgabe der Theologie und der Verkündigung. Die Kirche wird gerade so mehr als bisher das ganze Evangelium für den ganzen Menschen in der ganzen Welt und mit ganzer Kraft bezeugen. Daran haben wir alle Anteil.

Ich danke Ihnen für diesen Einsatz und bitte Sie darum, die Freude und die Hoffnung, die das Zweite Vatikanische Konzil geprägt hat und ausstrahlt, nicht durch Verweigerung oder Missbrauch zu trüben. Das Konzil ist und bleibt, wenn es richtig verstanden und verwirklicht wird, ein großes Geschenk für die Kirche auch des 21. Jahrhunderts.

Dazu erteile ich Ihnen gerne den Segen des Dreifaltigen Gottes,
des + Vaters und des + Sohnes und des + Heiligen Geistes. Amen.

 

Mainz, am 18. Februar 2009

Ihr Bischof

+ Karl Kardinal Lehmann

Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz