Predigt am 1. Weihnachtsfeiertag

25. Dezember 2004, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Samstag, 25. Dezember 2004

25. Dezember 2004, im Hohen Dom zu Mainz

Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

In der Geschichte des Heils kommt der biblische Gott den Menschen immer näher: Durch sein Wort, durch das auch die Schöpfung entsteht, durch Propheten, Führer, Boten, ja, auch durch seine Weisungen, die gerade Pfade zum Leben sind und nicht einengen wollen in dem, was uns wirklich fördert. Schließlich ist diese absteigende Bewegung an ihr Ziel gelangt, indem Gott nämlich seinen einzigen Sohn schickt. Man hat darin immer wieder so etwas wie das Ende der Wege Gottes gesehen, denn etwas Anderes, etwas Größeres und Tieferes als den Sohn, den einzigen Sohn, kann Gott nicht schicken. Er ist das letzte, unüberbietbare Wort an uns Menschen. Aber das gibt schon genug zu denken, und immer wieder werden wir erneut überrascht durch das, was es bedeutet. Immer mehr erkennen wir die verborgenen und langsam sich offenbarenden Tiefen dieses Herabstiegs zu uns. Denn er kommt als Kind in unsere Welt.

Die Erwartungen der Völker waren ganz andere. Ein großer Fürst, ein Herrscher, der Frieden bringt, der alle Gewalt aus dem Leben der Menschen nimmt, vielleicht auch ein großer Prophet, jedenfalls einer mit Glanz und Gloria. Einer, der es den anderen in der Welt zeigt, und der am Ende dann doch selbst wieder allen Versuchungen der Macht ausgesetzt wäre. Aber Gott kommt als Kind in unsere Welt. Für viele ist das Kind ja Ohnmacht in Person. Ja, es ist der Inbegriff der Ohnmacht für eine Welt, die vieles daran misst, welche Gewalt jemand gegenüber anderen hat, und was er leistet. Für eine solche Welt ist diese pure Machtlosigkeit geradezu lächerlich. Wer dieses Verständnis in Frage stellt, darf aber nicht in ein falsches Gegenteil verfallen und das Kind romantisch verklären, wie man das immer wieder getan hat. Seine Gnade, seine goldene Naivität, seine Unschuld wurden verklärt. Auf jeden Fall werden wir beschämt und angefragt, wenn Gott im Kind kommt: Ist für uns die Welt der Erwachsenen das Maß schlechthin? Schätzen wir alles ein und oft auch ab nach der Macht und vielleicht dem Geld, das jemand hat? Haben wir noch einen Sinn für die Armut, jene Armut des Kindes, die bedeutet: bedürftig sein, angewiesen sein auf andere und doch die ganze Würde eines Menschen zu haben. Ist ökonomisch erbrachte Leistung, so sehr wir sie brauchen, das einzige Maß für den Menschen? Gott kommt als Kind in unsere Welt. Damit werden diese Fragen an uns gestellt. Und darum muss zuerst das Menschsein des Kindes anerkannt werden: Gerade auch in seiner Hilflosigkeit. Wir sind ja immer wieder versucht, so wie es die Menschen damals auch waren, Herodes an der Spitze, ein Kind zu verachten. Dennoch hatte Herodes Angst vor dem, was dieses Kind bedeutet. Man darf hier auch grundsätzlicher an das ungeborene Kind denken, was in ganz besonderer Weise im Schoß der Mutter unsere Hilfe und unsere Solidarität bedarf.

Wir bleiben freilich nicht Kinder. Wir müssen in einer guten Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen noch viel mehr die in ihnen schlummernden Kräfte sehen und sie zur Entfaltung bringen. Wenn in diesen Tagen vor Weihnachten (2004) die Bundesregierung in einem Vorentwurf einen Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlicht, wenn die UNO und besonders Unicef den jährlichen Bericht über die Kinder in der Welt herausbringen, dann haben wir genug Anlass, uns dies genauer vor Augen zu führen. Von den zwei Milliarden Kindern in der Welt lebt eine Milliarde unter der Armutsgrenze. Und auch in unserem Land, wenn man genauer hinsieht, gibt es bisweilen wirklich eine Armut, in die Kinder hineinwachsen - nicht zuletzt gerade auch im Blick auf länger arbeitslose Menschen und Familien, in denen Mütter allein erziehend sind und viele andere Problemsituationen bewältigen müssen. Es ist eine Schande in unserer Gesellschaft, wenn so viele Kinder an der Grenze der Armut oder unter ihr leben müssen. Aber wie wenig belohnen wir immer noch Eltern, vor allem Frauen, Mütter, die den Mut und die Kräfte aufbringen, zu Kindern „Ja“ zu sagen? Umso grotesker ist es, dass Familien mit Kindern sich – es sind bestimmt Einzelfälle, aber mehr als wir denken – an einigen Orten immer noch schwer tun, etwa eine Wohnung zu finden.

Wir brauchen eine neue Offensive für das Kind! Ganz gewiss bedeutet dies auch nochmals einige Schritte in der Familienpolitik, und ganz besonders bedeutet dies in unserem Land, dass wir für die 1-3-Jährigen schauen müssen, dass sie in einen Kindergarten oder vergleichbare Einrichtungen kommen können. Da sind wir gegenüber vielen unserer Nachbarn in Europa Schlusslicht. Aber daran allein liegt es nicht. Es braucht mehr Mut. Wenn es hier nicht zu einer Wende kommt dann werden wir immer mehr zu einer älter werdenden, sich nicht verjüngenden, sondern vergreisenden Gesellschaft. Dann fehlen uns auch viele Anstöße, die wir durch Kinder bekommen: wenn sie uns fragen, wenn sie uns anschauen, wenn sie lachen, wenn sie traurig sind.

Gott kommt als Kind in unsere Welt. Er kommt in der puren Machtlosigkeit, und sein ganzes Leben wird diesen Zug beibehalten, wird uns zeigen, worauf es eigentlich ankommt: auf Offenheit zu Gott und zueinander, auf die Annahme des Anderen, auch wenn er uns fremd ist, auch wenn wir ihn zuerst nicht verstehen, wenn er andere Überzeugungen und eine andere Religion hat. Anerkennung des Fremden, das ist eine besondere Botschaft von Weihnachten. Gerade auch im Blick darauf, dass Gott ganz anders kommt, als wir es denken, nämlich als Kind. Weihnachten bedeutet wirklich, dass Gott zu uns in die letzten Tiefen unseres Menschseins hinabsteigt.

Was ist der Mensch, dass er Gott aufnehmen kann? Die Menschen haben immer wieder über viele Jahrhunderte seit der Menschwerdung Jesu gefragt: Was ist der Mensch, dass Gott in ihm Wohnung nehmen kann? Was hat er – gerade auch als Kind - für eine Würde, dass Gott in ihm Aufnahme findet? Es gibt dafür ein lateinisches Wort: Homo capax Dei, der Mensch, der fähig ist, Gott in sich aufzunehmen. Das steht hinter dem Weihnachtsgeheimnis, und das steht auch hinter der fast inflationär aber notwendigerweise angerufenen Menschenwürde in unseren Tagen. Davon hat der Mensch letztlich seine Würde, dass er Ebenbild Gottes ist. Und weil er Ebenbild Gottes ist, kann er auch Gott aufnehmen, kann Gott in ihm wohnen und das in einem Kind. Das zeigt, wie sehr wir unser Denken ändern müssen, wie wahr es ist, wenn wir beten: Du hast die Würde des Menschen wieder hergestellt. Trotz des Verfallenseins, trotz der Versuchungen der Menschen, trotz der vielen Gewalt gibt es nun die Möglichkeit, Menschsein im Sinne Gottes nach seinem Beispiel zu leben, vom Kindsein bis zur Reife des Menschen. Der Blick auf Weihnachten und Jesus in der Krippe zeigen uns ohne Romantik, was das Kindsein bedeutet. Dann erst, wenn wir dies bedenken, werden wir auch im tieferen Sinn des Wortes eine kinderfreundliche Gesellschaft. Weihnachten kann und möge uns zu dieser Besinnung bringen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort!

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz