Predigt am Pfingstsonntag

30. Mai 2004, im Mainzer Dom Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Datum:
Sonntag, 30. Mai 2004

30. Mai 2004, im Mainzer Dom Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Es ist gar nicht so einfach, über den Geist zu sprechen. Man kann ihn nicht sehen. Aber es gibt auch in unserem täglichen Leben viele Dinge, die existieren und die wir spüren, ohne sie mit unseren Augen zu erkennen. Ein wichtiges Beispiel kenne wir alle: den Wind. Wir spüren ihn sofort, wenn es kühl wird, oder wenn ein heißer Wind kommt, aber wir sehen ihn nicht. Kein Wunder, dass wir uns dies gerade auch in unserem religiösen Sprechen zunütze machen. Der Geist wird im Alten und im Neuen Testament umschrieben mit der „Hauch“, der „Atem“, der „Wind“. So spüren wir an den Wirkungen, dass etwas ist, auch wenn wir den Geist selbst nicht sehen. Wir spüren ihn an seinen Früchten, an dem, was er bewirkt und bezeugt. Und wir haben es vorher beim Spiel unseres Domorganisten gespürt, dass dieser Wind ein regelrechtes Brausen werden kann, wie wir es aus der Heiligen Schrift kennen. Damit kann auch die Mächtigkeit, das totale Erneuern unserer Welt und unserer Herzen, angedeutet werden kann.

So ist es auch mit dem Geist, und es gibt noch andere Bilder in der heiligen Schrift, die wir vorher auch gehört haben um das, was der Geist ist, anzudeuten. Das Feuer, das lodert, kann nicht ohne Weiteres berechnet werden. Der Geist kommt woher er will, und das Feuer lodert in verschiedene Richtungen; die Flammen schlagen unberechenbar empor. Das ist vergleichbar mit unserer Sprache, mit den Zungen, mit dem Hauch unserer Worte. Und nicht zufällig erscheint beides auch gerade in der hl. Schrift kombiniert: „Feuerzungen kamen auf sie herab.“

Es muss einen spürbaren Zusammenhang geben zwischen unserem täglichen Leben und dem Geist. Wir können nicht einfach meinen, der Geist sei unverbindlich, unsichtbar, segele sozusagen erhaben über alles hinweg. Wir dürfen nicht glauben, er habe nichts zu tun mit dem Alltag, ja, auch mit der Banalität unseres Lebens. Wir können den Geist erkennen in den Wirkungen, in den Spuren unseres Lebens: Da lässt er sich fassen. Aber wir dürfen uns nicht täuschen lassen. Wir denken vielleicht zuerst an das besonders Auffällige: Da, wo Menschen geradezu außer sich geraten, wo sie auch in ganz besonderer Weise schöpferisch tätig sind, wo man buchstäblich dieses Brausen des Geistes hören kann; in der Kunst, auch bei schöpferischen Einfällen; überall da, wo wir gewissermaßen begeistert werden, wo wir aus dem Alltag herausgerissen werden, uns ansprechen lassen von Außergewöhnlichem, ja, manchmal geradezu ekstatisch werden, außerhalb unser selbst sind, außerhalb unserer gewöhnlichen Welt. Da ist es nicht selten so, dass das nur im Nu eines Augenblicks ist, dass wir uns beinahe überschlagen vor Begeisterung, vor Freude. Oft suchen wir diesen Geist. Wir möchten ihn gerne festhalten, aber er lässt sich nicht festhalten. Wenn wir es versuchen, dann enden wir oft im Rausch, in einer künstlichen Begeisterung, die wir schaffen, aber eben nicht im Geist, von dem eben die Rede war.

Die heilige Schrift ist hier stocknüchtern. Sie weiß um die Begeisterung und sie schraubt sie nicht kleiner. Aber sie weiß auch, dass der Geist Gottes in die täglichen Rinnsaale unseres banalen Lebens kommen muss. Da, wo nicht einfach immer nur große Höhepunkte sehen, sondern wo der Alltag uns fordert. So spricht der heilige Paulus an einer ganz wichtigen Stelle im fünften Kapitel des Galaterbriefes von der Frucht des Geistes; also von der Wirkung, den Spuren des Geistes in unserem täglichen Leben. Wir erschrecken fast, wenn man sie aufzählt: Treue, Liebe, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung, Langmut, Alltagstugenden. Aber die sind nicht einfach selbstverständlich, nicht einfach routinemäßig in unserem Leben gegeben. Wo wir uns mühen müssen, dass wir z.B. jemanden länger ertragen in Schwierigkeiten, in Krankheiten; wo wir langmütig sind, treu, auch wenn es schwierig ist, da ist der Geist. Das ist nicht einfach nur in den explosiven Momenten eines ekstatischen Lebens, sondern vor allem da, wo dieses Leben auch mühsam und beschwerlich wird und manchmal auch schwer zu ertragen. Da ist gerade der Geist. Wenn davon die Rede ist, dass der Geist auch in der Selbstbeherrschung liegt, dann spüren wir, dass wir nicht einfach nur im Rausch, im laufen lassen, sondern auch in der Ordnung eine Äußerung des Geistes erfahren.

Auf wunderbare Weise hat die Pfingstsequenz, die wir vorher gesungen haben, auch diesen Zusammenhang zwischen dem Geist und dem Alltag herausgestellt. Das sind Dinge, die wir in unserem Beten und unserem Glaubensbekenntnis viel zu sehr vergessen haben. „Komm herab, o heiliger Geist, der die finstere Nacht zerreißt. Strahle Licht in diese Welt. Komm, der alle Armen liebt. Komm, der gute Gaben gibt. Komm, der jedes Herz erhellt, höchster Tröster in der Zeit.“ Ja, wir haben manchen Trost, auch Trost, den wir Menschen einander geben. Das ist viel, wenn einer die Gabe hat, in besonderer Weise zu trösten. Aber hier ist von „höchster Tröster“ die Rede; einem Trost, der nicht mehr zu übertreffen ist; ein Tröster, der uns wirklich hilft in der Zeit, jetzt, da wir es brauchen; nicht später einmal - so wichtig das ist-, sondern in unserer unmittelbaren Not von heute. Der Geist ist es auch, von dem die Sequenz, die um das Jahr 1200 in England entstand, sagt: „Gast, der Herz und Sinn erfreut, köstlich Labsal in der Not: In der Unruh schenkst du Ruh, hauchst der Hitze Kühlung zu, spendest Trost in Leid und Not.“

Da sehen wir, meine lieben Schwestern und Brüder, was wir eigentlich versäumen in unserem Alltag, wenn diese Früchte des Geistes nicht mehr lebendig sind unter uns. Ich will es an einem Beispiel besonders aufzeigen. In den letzten Wochen und Monaten bin ich bei vielen Besuchen und Gesprächen innerhalb und außerhalb der Kirche von vielen Menschen immer wieder angesprochen worden, die gesagt haben: Ich empfinde, dass die Rücksichtslosigkeit in unserer Gesellschaft immer größer wird. Sagen Sie doch etwas, schauen Sie doch, dass die Kirche hier eine Abhilfe schafft. In der Tat stellen wir überall Ellenbogenmentalität fest. Jeder geht nach seinen Interessen vor und kann sehr rücksichtslos werden, wegstoßen, nach vorne gehen, gleich, wer links oder rechts im Straßengraben liegen bleibt.

Da haben wir eine sehr gute „Spielregel“ in der Ethik, die so genannte „goldene Regel“, die in fast allen Religionen und Weltdeutungen unserer Geschichte eine Rolle spielt, auch in der Heiligen Schrift immer wieder vorkommt: Dass wir nämlich dem anderen nichts zufügen, was wir selbst nicht erleiden möchten. Wir kommen mit dieser goldenen Regel weit, wenn wir immer den anderen so betrachten, als ob wir an seiner Stelle wären. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Das können wir ja. Aber mit dieser goldenen Regel kommen wir bei der Rücksichtslosigkeit auch nicht weit. Wir brauchen einen Hebel, einen Ansatz, mit dem wir aus diesem Teufelskreis, in dem wir dauernd um uns selber kreisen, herauskommen. Das, meine lieben Schwestern und Brüder, ist der Geist Gottes. Auch in unserem Alltagsleben müssen wir uns von ihm manchmal fast ruckartig herausrufen lassen. Das ist der berühmte Ruck, den wir brauchen. Das ist sehr deutlich angesprochen in diesem uralten Pfingsthymnus, den wir vorhin gesungen haben: „Wärme du, was kalt und hart; löse, was in sich erstarrt. Lenke, was den Weg verfehlt. Was befleckt ist wasche rein; Dürrem gieße Leben ein; heile du, wo Krankheit quält.“ Das ist Geist vom Geist Gottes. Er ist schöpferisch, indem er uns hilft, dass wir aus eigenen Gefahren, aus eingemotteten Gleisen herausfinden. Er hilft uns, dass wir nicht einfach ewig in derselben Schiene weiter laufen, sondern umkehren können in des Wortes buchstäblicher Bedeutung. Wir brauchen gerade dazu den Geist Gottes; denn diese schöpferische Kraft kommt letzten Endes nur von ihm. Sie kommt nicht einfach allein aus uns Menschen heraus. Deshalb lesen wir auch den Vers in der Pfingstsequenz: „Ohne dein lebendig Weh’n, kann im Menschen nichts besteh’n, kann nichts heil sein noch gesund.“

Meine lieben Schwestern und Brüder, diesen Geist brauchen wir. Er schafft uns neu, er krempelt uns von innen her um und schafft uns auch immer wieder Freude im Alltag unseres Lebens. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort!

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz