Religionen neu auf der Weltbühne - Was ist von uns gefordert?

Gastkolumne von Kardinal Lehmann in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Datum:
Sonntag, 3. April 2016

Gastkolumne von Kardinal Lehmann in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Unter den vielen Gesichtspunkten der Attentate und terroristischer Gruppierungen in unseren Tagen gibt es einen Faktor, den man vielleicht mehr beachten sollte: Während in den säkularen Gesellschaften bei uns nicht nur der Einfluss, sondern auch die praktische Ausübung der heimischen Religion abnimmt, kommt in vielen Teilen der Welt und nun auch bei uns so etwas wie „Religion“ neu und mit Macht auf die Weltbühne. Es ist ein eigentümliches Phänomen, dass mit dem Rückzug von Religion bei uns selbst die Berufung auf Gott eine unheimliche Macht in unseren Gesellschaften darstellen kann.

Leidtragender für diese Entwicklung ist zunächst die Wertung von Religion in unseren Gesellschaften. Man kennt oft die gelebte Praxis des Glaubens nicht mehr von innen. An vielen Enden und Ecken unseres Lebens ist seit langem eine allgemeine Religionskritik wohlfeil. Man vermutet hinter der Förderung ein ganz anderes verkapptes Interesse, das in der Regel auf Macht und Geld hinausläuft. Verfehlungen, vor allem Einzelner in den Religionen, werden aufgebläht. Leider sind wir Kirchen an manchen kritischen Bewertungen mitschuldig, wenn ich z.B. an den sexuellen Missbrauch im Raum der Kirche denke. Im Blick auf die Verflechtung besonders mancher islamistischer Bewegungen mit einem bestimmten Gottesbild, das freilich nicht mit dem Koran übereinstimmt, wird dann Religion manchmal auch schnell gleichgesetzt mit dem Missbrauch und der Entartung bestimmter vorwiegend islamistischer Elemente von Religion. Und mancher denkt im Herzen, vielleicht manchmal beinahe unbewusst: So sind sie letzten Endes alle! Ein genereller Verdacht über Religion liegt schon lange wie Mehltau über unserem Denken.

Jedenfalls darf die große Gefahr nicht übersehen werden, dass auch die hier bei uns ausgeübten Religionen, die zumeist vom Fundament der Bibel leben, in diesen Generalverdacht und das Unbehagen, das vielfach auch von anderer Stelle noch geschürt wird, einbezogen werden. Es genügt nicht, sich darüber nur zu ärgern und sich abzuwenden. Es muss auch in viel höherem Maß eine positive Stärkung für die bei uns gelebten Religionen geben.

Dazu würde ich folgendes vorschlagen:

  • Es gehört zu jeder Religion, dass sie sich selbst dieser Gefährdung elementar bewusst ist und danach handelt, in sich selbst Wesen und Unwesen der Religion, wohltuende Praxis und Missbrauch zu unterscheiden. Sein und Schein müssen sorgfältig beachtet werden. Dies ist gerade beim Anspruch jeder Religion lebensnotwendig.

  • Jede wahre Religion betreibt also von sich her immer schon auch eine eigene Form von Religionskritik, die auf Heuchelei, Verknüpfung mit Interessen von Geld und Macht in höchstem Maß selbstkritisch aufmerksam ist. Wer vor dem Lichtglanz Gottes steht, muss in besonderer Weise solche oft verborgenen Tendenzen im eigenen Herzen identifizieren. Für Verfehlungen gibt es Reue und Eingeständnis der Schuld, Versöhnung und Neuanfang.

  • Ein wichtiges Kriterium für die Wahrheit einer Religion ist ihr Verhältnis zur Freiheit des Menschen. Jede Religion wird unerträglich, wenn sie dem Menschen Freiheit und Mündigkeit nicht ganz grundlegend ermöglicht, sondern wie auch immer gefährdet. Hier muss unter den Religionen selbst die wechselseitige Verantwortung für Religion überhaupt einen viel größeren Stellenwert einnehmen. Hier ist wie nirgends sonst eine fundamentale „Unterscheidung der Geister“ notwendig.

  • Durch nichts kann die Reinheit und Sauberkeit von Religion besser gewährleistet werden als durch Offenheit, Selbstlosigkeit, Machtverzicht und besonders den Einsatz für alle bedrängten Menschen. Der Einsatz für sie ist ein untrügliches Kriterium der Wahrheit von Religion. Darum ist Nächstenliebe, auch in Form von Caritas und Diakonie, das wichtigste Kriterium für sie. Schließlich ist die ungeheuchelte Liebe der Gradmesser für die Wahrheit von Religion.

Wenn wir bisher diese Kriterien nicht ausreichend verkündigt, gelehrt und gelebt haben, dann ist es mindestens jetzt höchste Zeit. Noch ist es nicht zu spät. Aber unsere Zeit mit den täglichen Ereignissen mahnt uns.

Diese Kolumne lesen Sie auch in der Print-Ausgabe der Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 3. April 2016

von Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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