Was man im Flüchtlingsdrama lernen kann...

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Datum:
Sonntag, 4. Oktober 2015

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Seit Wochen können wir täglich am Flüchtlingsdrama unserer Tage so nah teilnehmen, wie dies wohl kaum früher einmal möglich war. Freilich erinnere ich mich an die Menschen unterwegs nach dem Krieg: Flüchtlinge und Heimatvertriebene. Aber wir haben doch eine andere Situation. Kann man etwas daraus für unseren Alltag lernen? Ich will es mit einigen wenigen Strichen versuchen

  • Es ging den meisten von uns gut. Zwar wussten wir um Migrantinnen und Migranten bei uns aus aller Welt, aber es war kein uns selbst bedrängendes Problem. Jetzt sind wir schrill aufgewacht: Es gibt ja seit Jahren über 50 Millionen Flüchtlinge in der ganzen Welt. Aber jetzt ist dies auch bei uns wirklich dramatisch geworden. Wir haben weithin vergessen, dass Flucht und Vertreibung vom Anfang an zur Menschheitsgeschichte gehören. Meist herrschte Gewalt vor - und Angst. Wir müssen wirklich wieder lernen, dass dies zum Schicksal des Menschen aller Zeiten gehört. Es ist eine elementare Bedrohung.
  • Wir schauen in Gesichter von Erwachsenen und Kindern, die unheimlich erleichtert sind, dass die Bomben nicht über ihren Köpfen schwirren und dass sie bei uns und in anderen Ländern Frieden finden können. Selten hat man so stille, zufriedene und dankbare Kinder, Frauen und Männer gesehen. Wir können viel davon lernen, was wir alles für selbstverständlich halten. Und doch ist dies keineswegs so.
  • Die Menschen unseres Landes wurden oft, ob alt oder jung, eines groben Egoismus bezichtigt. Jetzt sehen wir, was für eine riesige Kraft der Hilfe in allen Formen unter uns aufbrechen kann. Wenn es darauf ankommt, wacht bei vielen Menschen die vielleicht verborgene oder schlummernde Nächstenliebe auf und ist unglaublich bereit, zu einer großen Hilfe.
  • Dies gilt nach meiner Beobachtung für junge Menschen. Wir haben sie oft gegenüber den Nöten anderer der Gleichgültigkeit bezichtigt, so als ob sie nur die eigene Lust und das Vergnügen kennen. Wenn man sieht, wie Mädchen und junge Frauen am Hauptbahnhof von morgens bis abends unermüdlich Hilfe leisten, - und zwar mit einem Lächeln auf dem Gesicht - dann wird man eines anderen belehrt. Es ist wirklich eine große Freude, bei der jungen Generation so viel Solidarität zu finden.
  • Es gibt Berufe, die bei uns wenig Dank für ihren Dienst ernten. Polizisten aller Arten gehören dazu. Ganz gewiss auch manche Angestellten von Behörden, die im Hintergrund arbeiten. Ich habe mich gefreut, wie diese Menschen, obwohl weit überanstrengt, hilfsbereit und menschenfreundlich sind. Sie tun es auch für uns. Wir müssen wohl etwas Abbitte leisten, wie wir oft über sie urteilen.
  • Ich werde freilich auch nachdenklich, wenn ich an die Widerstände in manchen Bevölkerungsschichten denke. Es ist furchterregend, wie vielen hilfsbedürftigen Menschen das Haus weggezündelt wird, brutal und rücksichtslos. Sind das Kriminelle, die sich hier austoben? Sind es hoffnungslose Nationalisten? Sind es Verzweifelte? Haben sie Lust am Tod anderer, auch von Kindern? Wir denken aber nicht nur an die Gewalttäter, sondern an alle Menschen, die diese Menschen in Not komplett ablehnen. Was geht in ihnen vor? Sie gehen uns an. Wir müssen uns auch um sie kümmern, wenn sie nur ein bisschen wollen.

Man könnte noch fortfahren, aber lassen wir es für heute. Man kann noch vieles lernen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Diese Gastkolumne lesen Sie auch in der aktuellen Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 4. Oktober 2015

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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