Wie leben aus der Kraft Gottes?

Predigt beim 95. Deutscher Katholikentag Ulm 2004, Hauptgottesdienst am 20. Juni 2004

Datum:
Sonntag, 20. Juni 2004

Predigt beim 95. Deutscher Katholikentag Ulm 2004, Hauptgottesdienst am 20. Juni 2004

Lesungstexte: 1 Kön 19, 4-8 / Gal 3, 26-29 / Lk 9, 18-24

Die Lesungstexte des heutigen Sonntags geben im Blick auf das Leitwort dieses Ulmer Katholikentages („Leben aus Gottes Kraft“) zu denken. Immer wieder ist die Frage gestellt worden, wie wir im Alltag unseres Lebens an Gottes Kraft überhaupt herankommen. Wo ist der Stecker zu dieser Kraftquelle? Hier hilft elementar das soeben gehörte Evangelium. Jesus weiß, wie viel über ihn, seine Herkunft und seine Zukunft, hinter den Kulissen getuschelt wird. Wie so oft packt er diese Verlegenheiten direkt an: „Für wen halten mich die Leute?“ Es ist noch leicht darauf zu antworten, wenn man nur zu wiederholen braucht, was die Leute sagen. Da kommen alle Heilserwartungen, die herumkursieren, zur Sprache: wiederkehrende Propheten, messianische Gestalten. Aber dann trifft Jesus zielsicher mitten in das Denken und Fühlen, ja das Herz der Jünger: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Da kommt es nicht mehr darauf an, was „man“ sagt, und welche Gerüchte herumgehen. Da gibt es nur noch das Bekenntnis, hier wiederum des Petrus, der bei aller Tollpatschigkeit und Schwäche das Herz auf dem rechten Fleck hat, wenn es darauf ankommt: „Du bist der Messias Gottes.“

Auch wir bekommen mit dieser Kraft Gottes nur Kontakt durch das persönliche Bekenntnis. Formeln und Lippenbekenntnisse helfen nicht weit. Und wenn wir noch so eindrucksvolle Katholiken- und Kirchentage ausrichten, förderten aber den Glauben der Einzelnen nicht, wäre am Ende alles umsonst. Auch Großereignisse werden durch diese Frage: „Für wen hältst du mich?“ gnadenlos auf den Prüfstand gestellt. Ich bin jedoch fest überzeugt, dass dieser Katholikentag mit seinen Gottesdiensten und Gebeten, Bibelarbeiten und Besinnungen, Vorträgen und Gesprächen vielen Menschen Orientierung und Ermutigung gebracht hat, auch wenn gerade dies nicht so leicht messbar und kommunizierbar ist. Man kann es jedoch an den frohen Gesichtern erahnen.

Gottes Kraft ist zwar mächtig, aber nicht nach unseren Maßstäben eines gewalttätig Sich-Durchsetzens. Im Zusammenhang unserer Lesung aus dem ersten Buch der Könige wird uns drastisch vor Augen gestellt: Der Herr war nicht im Sturm, auch nicht im Erdbeben und auch nicht im Feuer. Vielmehr kommt er – für viele im Lärm der Welt wohl kaum zu bemerken – in einem „sanften, leisen Säuseln“ (vgl. 1 Kön 19, 11ff.). Und ich bin fest überzeugt, dass dieser leise, aber wirksame Gott in diesen Tagen allgegenwärtig war und ist.

Darum kommt Gottes Kraft auch auf viele Weisen in unser Leben, wo wir sie gar nicht vermuten: nicht nur und zuerst in den sichtbaren Erfolgen und in den großen Zahlen, im Beifall aller und im lauten Getöse aller Art. Er gelangt zu uns, wenn wir uns öffnen lassen, stille werden, umkehren und über uns hinauswachsen: zu Gott und den Menschen. Seit Jesus unser Leben geteilt hat, gibt es keinen Ort auf Erden mehr, der einfach gott-los wäre. Dies gilt gerade auch im Leid und im Leiden. Die äußerste Passion und der Abstieg in das Totenreich, ja die Hölle, erweisen, dass er uns in allem vorausgegangen ist und uns auch noch in den schwierigsten Situationen, denen Menschen ausgesetzt sind, befreien kann. Gottes Kraft umfasst auch noch alles, was uns an Widrigem zustößt und begegnet. In diesem Sinne schenkt uns gerade die strenge Nachfolge Jesu eine Hoffnung, die nicht zuschanden wird. Auch der Tod als der mächtigste und letzte Feind des Menschen muss kapitulieren. Gerade deshalb kann der Christ, wie es Jesus im Evangelium sagt, „täglich sein Kreuz auf sich nehmen“ (Lk 9, 23-24) – ein unglaublich kühnes Wort!

Wenn wir uns in diese Schule Jesu wagen, werden wir durch die Kraft Gottes über uns hinauswachsen und nicht bloß unsere eigenen Bedürfnisse und Interessen wahrnehmen. Jesus sagt es sehr entschieden: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten.“ (Lk 9, 24). So haben wir auf diesem Katholikentag immer wieder die Geschwisterlichkeit unter Männern und Frauen, die weltweite Katholizität und Solidarität mit den bedrängten, leidenden Menschen in aller Welt sowie das noch engere Zusammenwachsen mit unseren evangelischen und orthodoxen Schwestern und Brüdern im Glauben und mit allen Menschen guten Willens erprobt, erweitert und vertieft. So kann wahr werden, was der hl. Paulus uns in der zweiten Lesung zugerufen hat: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer’ in Christus Jesus.“ (Gal 3, 28) Mit diesem Gewinn an einer nahen und doch weltweiten Menschenfreundlichkeit wollen wir wieder mutig in unseren Alltag hineingehen, wenn es z.B. um die aufrichtige Erfüllung des neuen Zuwanderungsgesetzes, um das Zusammenwachsen von 450 Millionen Menschen in Europa und um eine nachhaltige Sanierung unserer Sozialsysteme und die Bekämpfung in der Welt – heute ist auch Weltflüchtlingstag der Armen – geht.

Gottes Kraft kommt nicht im Blitz, im Erdbeben und im Feuer. Sie kommt auch nicht auf unser Kommando oder durch irgendwelche magischen Zwänge. Gottes Kraft kommt gerade auch dann, wenn wir unsere eigene Schwäche und Fehlbarkeit annehmen. Wiederum lehrt uns Paulus, dass die Weisheit und Stärke Gottes sich auch und gerade in unserer Schwäche offenbaren und vollenden kann (vgl. 1 Kor 1, 18ff.). Dann halten wir es auch aus, wenn wir nach Enttäuschungen und Scheitern entmutigt sind – und doch nicht einfach die Flinte ins Korn werfen oder davonlaufen, wenn es schwierig wird: in Ehe und Familie, in der Übernahme von Verantwortung und im vielfältigen Dienst der Liebe und der Caritas.

Warum soll es uns anders gehen als Elija, von dem in der ersten Lesung die Rede war. Er ist zutiefst enttäuscht, resigniert und wünscht sich den Tod. Auch ein Engel kann ihn nicht wieder rasch auf die Beine bringen. Aber schließlich befolgt Elija doch sein Wort: „Steh auf und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich. Da stand er auf, aß und trank und wanderte, durch diese Speise gestärkt, vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb.“ (19, 7ff.) So dürfen auch wir gerade im Blick auf die Eucharistie, wo uns im Brot des Lebens die Kraft Gottes besonders dicht und konkret gereicht wird, sagen: Volk Gottes, steh auf und iss. Dann kannst du einen manchmal längeren Weg bestehen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz