Predigt zur Christmette im Mainzer Dom, 24.12.2022 um 17.00 Uhr

Keine Angst vor der Angst

Was also hilft mir in meiner Furcht? Jemand an meiner Seite! (c) Franz Pfluegl | stock.adobe.com
Was also hilft mir in meiner Furcht? Jemand an meiner Seite!
Datum:
Sa. 24. Dez. 2022
Von:
Weihbischof Dr. Udo Markus Bentz, Generalvikar

Liebe Schwestern und liebe Brüder,

„Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.“ - So Franklin Roosevelt bei seiner Amtsantrittsrede als Präsident der USA 1933. Es waren in Amerika die Jahre der großen Depression vorangegangen. Roosevelt wollte einen neuen politischen Anfang setzen: Angst lähmt. Angst blockiert das Leben. Angst zersetzt die Selbstbestimmung des Menschen. Freie Menschen sollten keine Angst vor der Angst haben müssen. (Vgl. Heinz Bude, Gesellschaft der Angst). Das Einzige, wovor wir Angst haben sollten, ist die Angst selbst - heute an diesem Weihnachtsfest hören ich Roosevelts Satz mit neuen Ohren.

Denn - ich nehme wahr, wie die Angst bei uns um sich greift. Ein schweres Jahr neigt sich dem Ende entgegen:

  • Die Angst, die sich aus der zerstörerischen Gewalt des russischen Krieges gegen die Ukraine speist: Wie soll es weitergehen? Welche Eskalationen drohen denn noch? Wie sehr zerrüttet dieser Krieg die geo-politische Stabilität langfristig und welche Auswirkungen hat das auf uns hier in Europa, hier in Deutschland?
  • Die Angst vor den wirtschaftlichen Verwerfungen, vor einer Rezession, die den Wohlstand der breiten Gesellschaft bedroht. Die Abstiegsangst, sozial abzurutschen. Die Angst, finanziell in eine prekäre persönliche Lebenssituation hinein zu schliddern.
  • Die Angst vor den politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen, die solche Krisenerfahrungen einer Gesellschaft provozieren.
  • Und auch der Kirche sitzt die Angst im Nacken. Die Angst in unseren Gemeinden, wovon man Abschied wird nehmen müssen, weil die Gestalt von Kirche sich unaufhaltsam ändert.
  • Die Angst der Verantwortungsträger, wie man die ökonomischen, strukturellen Probleme meistern kann und dennoch dem Sendungsauftrag der Kirche gerecht wird.
  • Die Angst vor weiteren Verwerfungen und Polarisierungen, die im Ringen um den Synodalen Weg enorm viel Kraft kosten.
  • Ja, ich erlebe auf allen Ebenen bei Haupt- und Ehrenamtlichen und in den Kreisen und Gruppen unsrer Gemeinden auch die Angst, Kirche verliere immer noch mehr an Ansehen und rutsche noch tiefer in eine gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit.
  • Und jede und jeder von uns trägt „sein Päckchen“ an Angst aus seiner persönlichen Lebenssituation mit sich, wenn wir ehrlich in uns hineinhorchen. Und in diesen Tagen am Ende eines Jahres mit dem Weihnachtsfest und dem Jahreswechsel können unsere inneren Ängste nicht ganz so einfach überdeckt, betäubt oder ausgeblendet werden…

Angst: ein über alle Lebenssituationen hinweg gemeinsames Erleben?

Überhaupt: Was macht diese Angst mit uns? Ich nehme wahr, je länger die Krise nun schon anhält, umso mehr heißt die Angstbewältigungsstrategie „Ablenkung“ oder „buisness as usual“… Ich nehme auch eine latente, alltägliche Aggressivität im Ton und im Umgang miteinander wahr, die an Stellen aufbricht, an denen man es gar nicht vermutet. Vielleicht ergeht Ihnen das ähnlich. Mich macht auch der ständige Ruf nach Sicherungs- und Ausgleichsmaßnahmen in mancher Hinsicht nachdenklich. Angst engt ein. Angst lähmt. Angst zersetzt die Selbstbestimmung. Roosevelts Satz trifft einen Kern: Das einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst. Die Furcht dient nicht dem Leben. Sie zersetzt das Leben. Der Umgang mit konkreten, mehr noch mit den diffusen Ängsten aber wird ein Maßstab für unsren sozialen Zusammenhalt sein. Das dürfen wir nicht übersehen.

Die Botschaft der Weihnacht klingt da wie ein trotziger Fanfarenstoß: „Fürchtet euch nicht!“ So die Botschaft der Engel an die verunsicherten Hirten auf dem Feld. Wir selbst sind heute verunsicherte Hirten auf dem Feld. „Fürchtet euch nicht!“ Für manchen mag das beschwichtigend klingen oder wie eine Trotzparole wider aller Wirklichkeit.

Ich möchte mir dieses Wort der Engel an diesem Heiligen Abend neu zusprechen lassen. Es an mich heranlassen: „Fürchte dich nicht!“ Vor allem und zuerst höre ich darin zunächst einmal: Hab keine Angst vor deiner Angst! Fürchte dich nicht, deine Angst anzuschauen. Wo immer wir uns als Gesellschaft, aber auch als Kirche und als Bistum nicht unsrer Lebensrealität stellen, sondern „nur abfedern“, „beschwichtigen“ bzw. schmerzhafte Schritte nur verschleppen und verzögern, werden die vitalen, zur Bewältigung der Krise notwendigen Kräfte nicht in ausreichendem Maße freigesetzt. Das gilt auch für die ganz persönliche Lebenssituation.

„Fürchtet euch nicht“, sprechen die Engel zu den Hirten. Worte allein helfen noch nicht! Was hilft mir denn in meiner Furcht? Mir hilft in meiner Furcht, dass ich jemanden an meiner Seite weiß! Einen Mensch an meiner Seite, der mich liebt. Menschen an meiner Seite, die mich unterstützen und es in einem aufrichtigen Sinn „gut mit mir meinen“. Menschen an meiner Seite, die einen anderen Blick und andere Möglichkeiten haben, als ich nur allein für mich. Was also hilft mir in meiner Furcht? Jemand an meiner Seite! Und hier greift in einer immer noch und immer wieder „unglaublichen Weise“ die Botschaft von Weihnacht. Du hast nicht nur Menschen an deiner Seite. Du hast Gott selbst an deiner Seite! Gott würdigt unser menschliches Leben, ganz gleich wie holprig unser Weg ist, ganz gleich wo wir unseren Platz im Leben finden, ganz gleich vor welcher Aufgabe wir stehen: Fürchte dich nicht! - Du hast Gott an deiner Seite! Er wartet nicht, bis du perfekt bist. Er wartet nicht, bis alles von dir selbst ins Lot gebracht ist und du deine Angst gemeistert hast. Er wartet nicht, bis du alles menschenmögliche selbst getan hast. Gott stellt sich - indem er selbst Mensch wird - unverrückbar an unsre Seite im Ringen mit der Härte und den Zumutungen des Lebens. An unsrer Seite wirkt er mit uns (!) Heil und Heilung zu ermöglichen!

Weihnachten ist deshalb nicht zuerst eine gesellschaftspolitische Botschaft, sondern eine, die das Innere des Menschen erreichen will. Zuversicht, Mut, Heilung und Heil - all das beginnt im Innern des Menschen, in der Mitte der Person - im Herzen - nämlich dort, wo gerade auch die Angst ihren Ausgang nimmt. Deshalb: Nehmen wir uns das Wort dieser Nacht im wahrsten Sinne des Wortes zu Herzen: „Fürchtet euch nicht!“

Das ist der Beitrag, den der christliche Glaube für unsere Gesellschaft leisten kann: die „Ressource in der Krisendiagnose unsrer Zeit, die fehlt“, wie ein Journalist heute morgen in der Zeitung geschrieben hat. Niemand muss diese Botschaft annehmen. Sie ist auch nicht das Einzige, was hilft, die Krise zu bewältigen. Aber sie ist eine Botschaft, von der ich überzeugt bin, dass unsrer Gesellschaft etwas Entscheidendes fehlt, wenn sie fehlt. Gott wird Mensch und stellt sich an deine Seite! Diese Zusage ist ein fester innerer Kompass, der Halt und zugleich Freiheit zur Verantwortung gibt. Ich brauche keine Angst vor meiner Angst zu haben.

Damit ist aber auch klar: Es geht um mehr als um emotionale Ergriffenheit. Ergriffenheit hat vor allem eine narkotisierende Wirkung. Es geht auch um mehr als um Innerlichtkeit. Es geht darum, mit diesem inneren Halt Verantwortung zu übernehmen: Wer Gott an seiner Seite weiß, muss bereit sein, sich auch ganz konkret an die Seite der Menschen zu stellen. Wer aus der Botschaft lebt „Fürchte dich nicht!“,, der kann diese Botschaft nicht einfach nur in die Welt posaunen, der muss so nahe bei den Menschen sein, dass das Menschen bewegt und in Bewegung setzt, wie die Hirten sich auf den Weg machen voller Neugier, was diese Botschaft der Engel konkret heißt.

So ist es auch für uns als Kirche: Jenseits aller Strukturdebatten bleibt die Gretchenfrage unsrer Existenz und Sendung als Kirche: Wie nah bleiben wir bei den Menschen? Caritativ, seelsorglich, in der Begleitung menschlicher Krisen und Nöte, in der Suche nach Sinn und Halt. Alles, was uns mit unsrer Botschaft des Mensch gewordenen Gottes nah bei den Menschen sein lässt, hat Priorität.

Erinnern wir uns: Was hilft mir in meiner Furcht? Dass ich jemand an meiner Seite weiß! Gerade diese Botschaft „Fürchte dich nicht!“ setzt Nähe voraus, damit man ihr glauben kann. Wissen die Menschen also die Kirche an ihrer Seite, damit man der Botschaft vertrauen kann?

Es gilt auch an diesem Weihnachtsfest das wunderbare Wort von Alfred Delp: „Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt!“ Amen.