Schmuckband Kreuzgang

Kinderraub

Geraubte Kindheit – Alodia Witaszek-Napierala erzählte

Alodia wird Alice (c) Reiner Engelmann
Datum:
Fr. 7. Okt. 2022
Von:
Johanna von Bischoffshausen

Organisiert von der Geschäftsstelle „Weltkirche / Gerechtigkeit und Frieden“ im Bistum Mainz und in Kooperation mit dem Maximilian-Kolbe-Werk Freiburg  fand am 6. Oktober 2022 das angekündigte Zeitzeugengespräch in den Räumen der Wilhelmskirche statt.
Ursprünglich war Henriette Kretz als Zeitzeugin vorgesehen, aber krankheitsbedingt musste diese absagen.
Kurzfristig sprang Alodia Witaszek-Napierala für sie ein und gab einen schockierenden Einblick in ihre frühe Kindheit.

Zunächst begrüßte Peter Noss, der evangelische Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in der Wetterau, welche ebenfalls die Vortragsreihe unterstützt, die Anwesenden im Saal.
Nach ihrer kurzen Einführung begann Stephanie Roth vom Bistum Mainz in einer zunächst locker anmutenden Unterhaltung Fragen an die Zeitzeugin zu stellen. Doch bereits nach kurzer Zeit stellte sich unter den gut einhundert Zuhörerinnen und Zuhörern eine gebannt-entsetzte Sprachlosigkeit über die Lebensgeschichte von Frau Witaszek-Napierala ein:

Gebannt-entsetzte Sprachlosigkeit über diese Lebensgeschichte

Alodia_Witaszek (c) Stephan Dinges

Die kleine Alodia war gerade vier Jahre alt, da wurde ihr Vater, ein Mediziner der Universität Posen, der sich im Widerstand engagiert hatte, von der Gestapo verhaftet (und ein Jahr später ohne das Wissen der Familie hingerichtet).
Als kurz darauf die Mutter und die Großmutter ins KZ Auschwitz gebracht wurden, verteilte man die fünf Kinder zunächst unter Verwandten.
Weil Alodia und ihre jüngere Schwester Daria mit ihren blonden Haaren und blauen Augen nach Meinung des „Rasseamtes“ als arische Kinder zur Adoption freigegeben werden sollten, folgte für die beiden eine Odyssee:
Zunächst brachte man sie im „Jugendverwahrlager Litzmannstadt“ unter, einem KZ für Kinder und Jugendliche innerhalb des jüdischen Ghettos im heutigen Lódz. Bei wenig Nahrung, bitterer Kälte und harter Arbeit sahen sie viele gleichaltrige Kinder sterben, durften ab sofort nur noch deutsch reden und litten unter drakonischen Strafen.

Nach knapp neun Wochen ging es weiter nach Kalisz, einem ehemaligen Kloster, in dem statt liebevoller Ordensschwestern SS-Frauen die „Germanisierung“ weiter vorantrieben. Den Kindern wurde eingeredet, dass sie deutsche Waisenkinder seien, deren Eltern im Krieg gefallen wären. Außerdem wurden ihnen neue Vornamen gegeben.

Sehr eindrucksvoll schildert Rainer Engelmann diese Umerziehung von einem polnischen in ein deutsches Kind in seinem Buch "Alodia, du bist jetzt Alice", das während der Veranstaltung zur Einsicht ausgelegt war
(siehe Einbandfoto oben).

Im Januar 1944 wurden die beiden Schwestern mit anderen geraubten Kindern ins "Lebensborn-Heim" in Bad Polzin transportiert, von wo aus die Adoption schließlich stattfand: 

Zwangsadoption führte in ganz unterschiedliche Familien-Milieus

Im April 1944 stand Alodia zum erstenmal ihrer deutschen „Mutti“ gegenüber, während sie ihre tatsächliche polnische „Mama“ aus ihrem Gehirn streichen musste.
Der neue Vater blieb noch vier Jahre in Kriegsgefangenschaft. Weil diese Familie keine eigenen Kinder hatte, versuchte die Mutter, auch Alodias kleine Schwester Daria zu adoptieren, was ihr aber aufgrund der großen Nachfrage nach Adoptionskindern nicht ermöglicht wurde.
Während also die sechsjährige Alodia in der neuen Umgebung in Stendal bei Magdeburg geliebt und angenommen wurde, hatte es ihre kleine Schwester bei einer Familie nicht gut, die lediglich eine zusätzliche Arbeitskraft gesucht hatte - Daria brach deshalb nach ihrer späteren Rückkehr zur leiblichen Mutter den Kontakt zu der deutschen Familie sofort ab.

Schwierige Wieder-Eingewöhnung in Polen

Später hörte Alodia die Geschichte ihrer Mama, die von Auschwitz nach Ravensbrück transportiert worden war und dort am 30.4.1945 die Befreiung durch die Rote Armee erlebte. Sie ging  zurück nach Posen und schaffte es relativ bald , ihre bei Verwandten untergekommenen drei Kinder zu sich zu holen.
Mit der Hilfe von polnischen und internationalen Organisationen gelang es zwei Jahre später, auch die beiden geraubten Mädchen zu finden, so dass Alodia am 7. November 1947 zurück in ihre Familie gehen konnte.
Neben der Trauer über den Verlust des Vaters fiel ihr dort die Eingewöhnung wegen der anfänglichen Fremdheit ihrer Mama und der vergessenen polnischen Sprache sehr schwer. Da sie besser deutsch als polnisch sprach, wurde sie in der Schule von den Mitschülern als „deutsches Schwein“ bezeichnet.

Polnisch-deutsche Freundschaft

Während des ganzen Vortrags verlor Frau Witaszek-Napierala kein schlechtes Wort über ihre deutsche Mutti. Und es wurde auch in der sich anschließenden kurzen Fragerunde klar, dass sie sich bei ihr in Liebe getragen fühlte. Dies ist auch einer der Gründe, warum sie trotz allem Leid ohne Verbitterung auf ihre Kindheit blicken kann.
Und so wurde es ihr ganz wichtig, dass die beiden Mütter sich kennenlernten, was erstmals 1969 geschah. Aus den beiden Frauen wurden Freundinnen und nicht ohne Stolz kann Alodia Witaszek-Napierala sagen, dass ihre eigenen Kinder „eine polnische und eine deutsche Oma hatten“.

Nach Beantwortung weiterer Fragen rundete Mieczyslaw Grochowski, ebenfalls ein Zeitzeuge, der zu Vorträgen nach Deutschland reist, den Abend mit einem kurzen Stück auf seiner Trompete ab, welches er auch schon zu Gedenkveranstaltungen an Konzentrationslagern gespielt hatte.