Schmuckband Kreuzgang

Gedanken zum 4. Sonntag der Osterzeit 2020

Pfarrer Martin Sahm macht sich Gedanken über das Wort "systemrelevant"

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Systemrelevant
Datum:
Mo. 4. Mai 2020
Von:
Pfarrer Martin Sahm

Gedanken zum 4. Sonntag der Osterzeit 2020

3. Mai 2020

von Pfr. Martin Sahm

           

Die Bibelstellen des Sonntages sind:

- 1. Lesung:    Apostelgeschichte 2, 14a + 36-41

- 2. Lesung:    1. Petrusbrief 2, 20b-25

- Evangelium: Johannesevangelium 10, 1-10

 

 

Predigt

Liebe Schwestern und Brüder, manchmal erschrecke ich, wenn ich über Worte nachdenke, die ich gerade zuvor wie selbstverständlich und ganz geläufig benutzt habe. Nicht darüber nachgedacht; nachgeplappert; benutzt doch jeder! Und doch kommt dann irgendwann die Frage: „Was sage ich damit überhaupt?!“ Was sagt mein Wort/mein Satz über den Menschen aus? Über den Anderen, aber auch über mich? Aber auch: wie hört der andere dieses Wort? Was löst es in ihm aus?

Das Wort, an dem ich in der vergangenen Woche hängengeblieben bin, ist das aktuelle Modewort „systemrelevant“.

Ich bin jetzt kein Verschwörungstheoretiker, aber da fragt man sich schon, welches „System“ den hier gemeint ist. Im Wörterbuch finde ich dazu die Definition: „die Art, wie eine Regierung oder ein Staat aufgebaut und gegliedert ist. Die Prinzipien, nach denen etwas geordnet ist.“ Mit System ist also nicht der Staat selbst gemeint, sondern die Art und Weise, wie er gegliedert ist. Und alles, was nötig ist, um Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, ist folglich systemrelevant. Daraus sehen wir schon, dass systemrelevant durchaus ein subjektiver Begriff ist. Für eine Diktatur werden ganz andere Dienste und Aufgaben im Staat systemrelevant sein, als in einer Demokratie. Das Wort systemrelevant bedeutet also nichts anderes, als dass er oder sie wichtig sind, um die Ruhe und Ordnung im Staat zu sichern. Dazu gehören aber nicht nur die Sicherheitsorgane wie Polizei und Rettungsdienst, sondern eben auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln, das Entsorgen von Müll, das Bereitstellen von Telefon, Fernsehen oder Internet, und auch die medizinische Versorgung. Strenggenommen all das, was zum Beispiel auch Unruhen oder ähnliches auslösen könnte. Das heißt, dass die öffentliche Meinung und die gesellschaftliche Situation indirekt mitentscheiden, was systemrelevant ist, und was nicht. Wessen Lobby groß genug ist, kann also am ehesten darauf hoffen, als systemrelevant eingestuft zu werden.

Für den, der so als relevant gilt, tut es gut, das auch zu hören! Auch Menschen, die sonst in ihren Berufen nie wirklich beachtet werden, sind plötzlich wichtig und rücken in den Mittelpunkt des Interesses und der Berichterstattung. Und das ist gut und richtig. Unsere Gesellschaft soll nur mal sehen, wie viele Menschen sich sonst beinahe unsichtbar um sie kümmern. Und diese Menschen bekommen dann in Zeiten wie heute auch gewisse Vorteile. Nicht unbedingt finanziell, aber doch so, dass sie ihre Arbeit weiterhin tun können: z.B. ein Vorrecht bei KiTa-Notbetreuungen.

Schade ist, dass es hier aber nicht um die Person geht, sondern wieder nur darum, das System am Laufen zu halten…

Aber als ich diese Woche über das Wort systemrelevant nachdachte, fielen mir nicht nur die Menschen ein, die relevant sind, sondern vor allem auch jene, die gerade als nicht relevant abgestempelt werden. Was bedeutet es für sie zu hören: „Dich brauchen wir nicht!“ „Ohne Dich geht es doch auch, guck nur!“ Ich denke hierbei zum Beispiel an die Musiker und überhaupt alle Künstler. An die, die darauf angewiesen sind, auf der Bühne vor Publikum zu stehen. An die Gastronomen mit all ihren Einschränkungen; in den vergangenen Wochen auch die Lehrer – selbst die Bildung der nächsten Generation ist also „für das System“ nicht sakrosankt. Die vielen Geschäftsinhaber – nicht nur für Luxusartikel – und gerade auch jene Läden, ohne die wir sonst nicht auszukommen scheinen: Friseure, Nagelstudios, Fußpflege, und alle, die ich jetzt hier noch vergessen habe… alle sind nicht systemrelevant. Wie fühlen sich wohl jene, die gerade in Kurzarbeit sind? „Es ist gut, dass wir Dich haben, aber im Moment können wir Dich nicht/nicht so sehr gebrauchen.“ Und wie geht es denen, die jetzt gerade in der Krise ihren Job verloren haben oder vorher schon arbeitslos waren?

Was ich an dem Wort systemrelevant so schrecklich finde ist, dass es Menschen bewertet. Die Bibel und übrigens auch unser Grundgesetz sprechen dagegen ausdrücklich nicht von einem Wert des Menschen, sondern von seiner Würde! Ein Wert ist etwas, dass ich bemessen kann; in Zahlen, in Geld. Bei der Würde kann ich genau das nicht. Darum müssen wir aufpassen, dass wir genau in diese Falle nicht dauerhaft hineintappen! Natürlich kann unser Staat – gerade in Krisen wie heute – sagen: diese oder jene Branche ist für uns im Moment wichtiger als andere. Genau wie ein Arbeitgeber ganz legitim überlegt, ob er sich noch einen weiteren Angestellten leisten kann. Aber das darf nicht zu Lasten der Würde des einzelnen gehen!

Der Wert eines Menschen kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem aus welchem Blickwinkel ich ihn betrachte und was ich gerade brauche. Ein Erwachsener wird im Normalfall einen jeden 8-jährigen beim Lesen und Schreiben überflügeln und doch beim Memoryspielen verlieren… Wert ist relativ. Was bleibt – oder besser von Anfang an ist – ist die Würde. Als Geschenk unseres Gottes.

Jesus als der gute Hirte geht nicht dem einen Schaf hinterher und lässt die 99 anderen zurück, weil dieses ein ganz besonderes war. Dieses eine Schaf war nicht wertvoller, nicht systemrelevanter als die anderen. Er geht ihm nach, weil es zu ihm gehört. Weil es ein Teil von ihm ist. Denn das bedeutet Würde und Liebe. Amen