16. Sonntag im Jahreskreis - Pfr. Stefan Schäfer

Datum:
So. 19. Juli 2015
Von:
Pfr. Stefan Schäfer

16. Sonntag im Jahreskreis - Pfr. Stefan Schäfer

Liebe Schwestern und Brüder,

auf meinem Schreibtisch im Büro liegt eine „to-do-Liste". Punkt für Punkt ist darauf notiert, was ich im Lauf der Woche zu erledigen gedenke. Ich bilde mir ein, das würde mir helfen, den Überblick zu behalten. Und es erfüllt mich für einen Moment mit Genugtuung, wenn ich ein Häkchen hinter einen der Punkte machen kann.
Noch nie freilich bin ich bis zum Ende einer Woche mit meiner Liste fertig geworden. Zu jedem Punkt, den ich als erledigt abgehakt habe, sind drei neue hinzugekommen. Am Montag beginnt das Ritual dann von vorn: Ich setze eine neue Liste auf mit den Prioritäten der neuen Woche. Wohl wissend, dass ich wieder nicht damit zu Rande kommen werde.

So ähneln wir wahrscheinlich alle ein wenig dem Sisyphos. Jener Gestalt der griechischen Mythologie, die von den Göttern dazu verurteilt ist, einen Felsen den Berg hinauf zu bewegen, jeden Tag neu, weil dieser Felsen immer wieder, kaum ist Sisyphos am Ziel angekommen, ins Tal hinabrollt:
Auch wir werden niemals wirklich fertig mit dem, was uns aufgetragen ist.
Hinter jeder Lösung, die wir finden, tun sich neue Probleme auf. Manchmal gönnen wir uns einen Augenblick der Ruhe. Aber wir wissen dann schon, dass unsere Aufgabe nie vollkommen erfüllt sein wird, dass nie alles gut und vollbracht ist, und dass unser Fels am nächsten Tag doch wieder auf uns wartet.

Natürlich dürfen, um ein Beispiel zu geben, diejenigen, die unser Sommerfest am vergangenen Sonntag organisiert und durchgeführt haben, stolz und zufrieden auf die Initiative zurückschauen, Flüchtlingsfamilien auf dieses Fest eingeladen zu haben. Zugleich müssen wir uns eingestehen, dass das nur ein Anfang gewesen sein kann und dass die Begegnung wiederholt und intensiviert werden muss, damit eine solche Initiative wirklich heilsam für die Betroffenen ist. Je intensiver der Kontakt aber wird, umso schmerzlicher wird ins Bewusstsein treten, wie wenig es immer nur sein kann, was ir mit all unserem Engagement und gutem Willen angesichts von Krieg, Unrecht und der Not der Menschen, die auf lebensgefährlichen Wegen ihr Heil in der Flucht gesucht haben, letztlich bewirken können.

Im Großen wie im Kleinen: Wir ähneln dem Sisyphos.
Es gehört zum Wesen unseres endlichen, mit begrenzten Kräften ausgestatteten, vergänglichen Lebens, dass wir niemals wirklich fertig werden. Nicht mit unseren Aufgaben. Mit dem Leben nicht und mit dem, was uns darin aufgetragen ist.

Das liegt vielleicht auch daran, dass diese Welt noch im Werden ist. Sie geht, wie wir glauben und hoffen, einer Vollendung entgegen. Noch aber ist sie von Kämpfen und Widersprüchen geprägt. Es gibt in ihr das Endgültige und Vollendete nicht, keine Vollkommenheit, die nichts mehr zu wünschen übrig ließe.
Höchstens als Ahnung, als Anlauf und Annäherung: Manchmal berühren wir etwas davon, wie es sein und bleiben sollte, wie es gut wäre und erfüllt. Aber wir können es nicht halten. Die Gegenkräfte sind zu groß. Und der Felsen verliert die Balance und rollt wieder ins Tal.

Man könnte darüber resignieren oder in Zynismus verfallen: weil alles Mühen absurd erscheint, wenn es das Wahre und Richtige im Falschen nun einmal nicht gibt,
Manche verbrauchen sich im Aktionismus. Sie brennen ein Feuerwerk der guten Taten und der gutgemeinten Projekte ab. Manche bleiben dann ausgebrannt zurück, ohne nachhaltig Licht ins Dunkel gebracht zu haben.

Als die Jünger, die Jesus ausgesandt hatte, zurückkehren, sind sie erschöpft. Sie haben gelehrt und geheilt, Dämonen ausgetrieben und sich bemüht, das Senfkorn des Gottesreiches auszusäen. Aber sie werden des Ansturms nicht Herr. Geradezu modern mutet an, wie das Markusevangelium den Stress schildert, in den sie geraten sind: „Sie fanden nicht einmal mehr Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen."

Da versammelt Jesus sie alle um sich: seine Jünger, diese hilflosen Helfer und die vielen Mühseligen und Beladenen, die sie bedrängen, weil sie mit ihrem Leben einfach nicht fertig werden. Und, als hätte er alle Zeit der Welt, lehrt er sie lange.

Wir erfahren nichts über den Inhalt seiner Predigt. Nur, dass er sie aus Mitleid gehalten habe. Aus ihm spricht der in all unseren Mühen, im Gelingen und Scheitern, mitleidende Gott.
Wenn wir uns in den Kreis derer, die da um ihn versammelt sind, selbst hineinphantasieren, könnte er vielleicht auch uns aufrichten und trösten:

- Die Mutter, die einfach nicht mehr fertig wird mit ihrer pubertierenden Tochter und die manchmal über die Gefühle erschrickt, die sie ihrem eigenen Kind gegenüber entwickelt, der er vom langen Atem der Liebe sprechen könnte, von der Geduld und vom Verzeihen, nicht 7 mal, sondern 7 mal 77 mal, dem andern, aber auch sich selbst gegenüber, in dem was wir einander schuldig bleiben.

- Die Helfer beim Pfarrfest, die sich fragen, was ihr Einsatz für die Flüchtlinge wirklich gebracht hat und ob das nicht nur eine hilflose Geste und eine Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens gewesen ist, denen er sagen könnte, dass es manchmal schon viel ist, einem der Kleinen auch nur ein Glas Wasser zu reichen (oder eine Cola) und zuzulassen, an sich heranzulassen, dass die Not, die so oft hinter Zahlen und Statistiken verschwindet, ein Gesicht bekommt (z.B. das jenes kleinen Mädchens mit den Winterschuhen aus der Kleidersammlung an den Füssen, im Sommerkleid, das eben noch schüchtern abseits steht und bald darauf mit den deutschen Kindern auf dem Sommerfest zu spielen beginnt).

- Uns alle, die wir nie zu Rande kommen mit unseren Aufgaben und deren „to-do-Liste" niemals abgearbeitet sein wird, mit unserer Tendenz, uns zu überfordern, denen er nahelegt am Abend des Tages, am Ende der Woche, am Abend des Lebens sich selbst zu sagen: „Ich bin nur ein unnützer Knecht gewesen. Ich habe nur meine Schuldigkeit getan". Nicht mehr. Aber wahrscheinlich auch nicht weniger.

„Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen. Und er lehrte sie lange."

In Jesus begegnet der mitleidende Gott, der in all dem, womit wir nicht fertig werden, gegenwärtig und am Werk ist. Darin, dass er den ganzen unerledigten Rest im Kreuz auf sich genommen hat, gründet die Hoffnung unseres Glaubens auf Erlösung und Vollendung.

Der Sisyphos-Felsen, der uns am Morgen erwartet, erscheint im Licht dieser Hoffnung neu und verwandelt: als das tägliche Kreuz unserer Nachfolge auf dem Weg des Mitleidens und der Liebe, auf dem wir einer Vollendung entgegengehen, die wir nicht von uns selbst erwarten.

Wenn wir das glauben kann uns das aufrichten und trösten.

Wir dürfen uns die Menschen, die zu Füssen Jesu saßen und seine Predigt hörten, als glückliche Menschen vorstellen.

Amen.