27. Sonntag im Jahreskreis -

Pfr. Stefan Schäfer

Datum:
So. 7. Okt. 2018
Von:
Pfr. Stefan Schäfer

Liebe Schwestern und Brüder,

im Uranfang, so erzählt es ein Mythos, den uns der griechische Philosoph Platon überliefert, gab es die Trennung der Geschlechter von Mann und Frau noch nicht. Am Beginn der Schöpfung waren vielmehr das Männliche und das Weibliche im Menschen noch vereint. Kugelgestaltig stellte man sich diesen Menschen vor – ein Bild der Vollkommenheit und Selbstgenügsamkeit. Weil er ihnen so aber zu ähnlich war, vollkommen und sich selbst genug, griffen die Götter ein. Und sie schnitten ihn mitten entzwei. Seitdem gibt es uns Menschen gleichsam nur noch als Fragment. Und ein Teil sucht beständig sein anderes, weil es sich selbst nicht genügt. Die Bewegung dieses Suchens, das Zurückstreben in die ursprüngliche, anfängliche Einheit, ist die Bewegung der Liebe, die seitdem die Welt im Gang und uns Menschen in Atem hält.

So ist der Mensch: das Wesen, dem etwas fehlt, der mit sich selbst immer nur ein Bruchstück, ein Puzzleteil in Händen hält und die Ergänzung, die Ganzheit und das Heilsein vom andern her empfängt.

Ähnlich sieht das auch jene andere, uns vertrautere Erzählung vom Uranfang, der biblische Schöpfungsbericht:
Nicht in sich selbst und nicht in der Welt, in die er hineingestellt ist, findet der Mensch sein Genügen. In allem ist etwas zu wenig: er kann allem Namen geben, d.h. es sich aneignen und gefügig machen. Aber es „entspricht" ihm nicht. Erst als er selbst angesprochen wird, als er ein „Du", ein Gegenüber, findet, kommt er zu sich selbst:
„Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch."
In der Bezogenheit von Mann und Frau, in der Anziehung durch den andern, darin, von ihm angesprochen zu sein, im Spiel der Liebe, das nun beginnt, entfaltet sich das Leben.

Wahrscheinlich ist das die tiefste Sehnsucht in uns Menschen: einander zu „erkennen", wie die Bibel sagt. Im liebenden Blick des andern zu sich selbst zu kommen. Von ihm, dem „Du", das Wort zu hören, das man sich nie selbst sagen kann: „Ich nehme dich an".
Darin kommen wir zu uns selbst, kommt unser Suchen (für einen Augenblick) zur Ruhe, berühren wir die heile, ganze Gestalt unseres Lebens, von der wir sonst immer nur ein Bruchstück sind. Und fühlen uns, jenseits von Eden, dem Paradies wieder nahe. Als wären wir schon am Ziel unserer Lebensreise angekommen.

Freilich, viele werden sagen müssen: diese Sehnsucht erfüllt sich nicht. Und wenn sie sich erfüllt, dann vielleicht nur in wenigen Sternstunden, in „Hochzeiten" des Lebens. Ehe dann unweigerlich die Enttäuschung am andern kommt, der eben doch nicht die vollkommene Entsprechung der eigenen Bedürftigkeit war.
Manche werden jetzt auch hier in diesem Gottesdienst sein, die solche Enttäuschung erfahren haben. Manche vielleicht auch, die mit Bitterkeit auf das Scheitern ihrer Hoffnung auf Glück an der Seite eines anderen Menschen zurückdenken.
Und die das Jesus Wort aus dem heutigen Evangelium hart ankommt, nicht zuletzt, weil es uns in der Verkündigung der Kirche immer wieder als ein absoluter Maßstab begegnet, an dem gemessen, sie sich als gescheitert erleben müssten.

Ich kann dieses Problem nicht lösen. Für den Moment dieser Predigt kommt mir aber ein Gedanke zu Hilfe, der sich aus dem Vergleich der beiden Schöpfungsgeschichten, des griechischen Mythos und der biblischen Erzählung, ergibt:

Die Götter im Mythos vom Urmenschen, den Platon überliefert, haben ein Motiv für ihr Handeln, ihn zu teilen: Der in sich vollkommene, sich selbst genügende Mensch ist ihnen zu ähnlich. Deshalb schreiten sie ein. Dass er von nun an von der Liebe getrieben ist, seine fehlende Hälfte suchen muss, sie berührt und wieder verliert, ist der menschliche Makel, der ihn von den Göttern unterscheidet.

Ganz anders sieht das die Bibel: Das Motiv, wenn man das so sagen darf, für Gott, die Welt und den Menschen ins Dasein zu rufen, ist seine Liebe. Mehr noch: Gott ist die Liebe, die ohne Gegenüber nicht sein will. Darum ruft er den Menschen ins Dasein und hört nicht auf ihn zu suchen.

Die Selbstoffenbarung Gottes, wie sie in der Bibel erzählt wird, lässt sich ja durchaus als eine bewegte und nicht immer glückliche Liebesgeschichte Gottes mit dem Menschen lesen. Sie kennt all das, was wir aus unseren Beziehungsgeschichten auch kennen: Aufschwünge und Momente der Nähe, aber auch tiefe Enttäuschung, Abbrüche und den Neuanfang. Manche Züge des zornigen Gottes, wie sie uns im Alten Testament erschrecken, sind nichts anderes als Ausdruck einer am Andern verzweifelnden Liebe. Göttlich ist dieser Gott der Bibel nicht in seiner selbstgenügsamen Vollkommenheit, sondern in der Leidenschaft seiner Liebe.

Und darin ist der Mensch als Gottes Ebenbild erschaffen.
Die Liebe, die uns bedürftig sein lässt, ist in dieser Sicht gerade nicht der Makel des Menschlichen wie im platonischen Mythos, wo erst das vollkommene Glück die Menschen der Selbstgenügsamkeit der Götter ähnlich sein lässt. Sie ist in ihrer Bewegtheit des Suchens, im Gelingen aber auch im Scheitern, im Finden und im Verlieren und auch dann wenn sie ihr Glücksversprechen nicht einlöst und sogar Leiden schafft, die Spur des Göttlichen in unserem Leben, die Signatur des Schöpfers, die wir tragen.
Erst darin, dass wir eben nicht uns selbst genug sind, dass wir Sehnsucht haben, dass wir um unsere Liebe kämpfen und am andern auch scheitern können, kurz: darin, dass wir als Liebende und der Liebe Bedürftige ins Dasein gestellt sind, sind wir, was wir von Schöpfung her sein sollen: Ebenbild Gottes. Und Gott erkennt sich selbst in uns auch da, wo wir an der Liebe leiden.

Unserer Sehnsucht kommt Gott in seiner Sehnsucht entgegen. Erbarmend, verzeihend, mit dem Wort der Versöhnung, das er in Christus spricht, immer bereit, uns einen neuen Anfang zu schenken.
Er lädt uns ein zum vertrauenden Glauben in seine Liebe zu uns Menschen, die wir als sein Ebenbild in menschlich, manchmal allzu menschlicher Gestalt widerspiegeln dürfen, bis wir nach all den Irrungen unserer Suche auf dem Weg der Liebe am Ziel angekommen sein werden und, wie der Apostel Paulus sagt, „ durch und durch erkennen, wie( wir) auch durch und durch erkannt worden" sind.

Amen