Allerseelen - Pfr. Schäfer

Datum:
So. 2. Nov. 2014
Von:
Pfr. Stefan Schäfer

Allerseelen - Pfr. Schäfer

 

Liebe Schwestern und Brüder,

es liegt eine eigene Poesie in dieser Jahreszeit: im Aufglühen der Natur, der Farbenexplosion des Oktober, in der Melancholie des November mit seinen Nebeltagen, an denen es uns an die Gräber unserer Lieben zieht.

Immer wieder haben die Dichter versucht, die Stimmungen des Herbstes einzufangen.

Eines der bekanntesten Herbstgedichte stammt von Rainer Maria Rilke. Wahrscheinlich haben es viele von Ihnen im Ohr:

 

„Die Blätter fallen, fallen wie von weit,

als welkten in den Himmeln ferne Gärten;

sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde

Aus allen Sternen in die Einsamkeit.

 

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält."

 

Mehr als drei Worte braucht der Dichter nicht, um seinen Text in der titelgebenden Jahreszeit, dem „Herbst", zu verorten: „Die Blätter fallen". Und länger wird das Gedicht nicht bei der Beschreibung eines Naturphänomens verweilen.

Die fallenden Blätter, ihr Treiben und Torkeln im Wind werden zum Bild, das über sich hinaus weist: Sie fallen „wie von weit", sie fallen mit „verneinender Gebärde".

Als wären sie müde geworden. Als wäre ihnen die Anstrengung, sich selbst am Baum und im Leben zu halten, zu groß geworden. Als würden sie resignieren: es ist genug! Wie Sterbende, die alle Kraft verlassen hat und die schließlich einwilligen ins Unvermeidliche. Und die sich los- und fallenlassen.

 

Das Fallen selbst der unzählbar vielen Blätter wird zum bestimmenden Motiv. Unaufhörlich und leise vollzieht es sich. Und leise stellt Rilkes Gedicht gleich in der ersten Zeile die Frage, ob wir darin wirklich nur dem unaufhörlichen „Stirb und Werde" der Natur begegnen, einer ewigen Wiederkehr.

Gibt es nicht doch ein „Woher", das nicht mit dem Hinweis auf den Baum, an dem jedes Blatt gewachsen ist und von dem es nun fällt, weil sein Lebenszyklus sich vollzogen hat, schon benannt ist? Einen viel größeren Zusammenhang?

Sie fallen „wie von weit". Die „Gärten" freilich sind „fern" und wie „die Himmel", in denen sie stehen nur ein Ahnung. Vage und ungefähr.

Wenn es aber ein „Woher" dieses Fallens gäbe, gibt es dann nicht auch ein „Wohin", in dem es aufgefangen wird?

 

Alles fällt.

Es gibt nichts, das sich aus sich selbst und eigener Kraft halten könnte. Alles, was ist, wird vom Gewicht des Daseins in die Tiefe gezogen:

„Und in den Nächten fällt die schwere Erde

aus allen Sternen in die Einsamkeit."

 

Ein dunkler Ton klingt da nun mit. In Nacht und Einsamkeit lauert auch die Angst.

Mir scheint, dass sich von Ferne die Stimme eines Anderen in Rilkes Gesang bemerkbar macht und einmischt: Friedrich Nitzsche hatte den Tod Gottes verkündet und das Erschrecken ausgemalt, den Schwindel, der uns überfallen müsste, wenn wir uns der Leere, die dieser Tod hinterlässt, wirklich und mit vollem Ernst aussetzen:

„Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Stürzen wir nicht fortwährend?"

Das sind Bilder, die auch für Rilkes Text prägend sind: Dieses Stürzen und Fallen, die Erde, die durch die die Unendlichkeit rast, die leeren Räume zwischen Sternen, die von uns nichts wissen.

„Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?", hatte Nitzsche gefragt. „Haucht uns nicht der leere Raum an? Kommt nicht immerfort die Nacht und noch mehr Nacht?"

 

Das klingt alles an in diesem Gedicht. Auch Rilke kennt die Nächte, in denen wir vor dem Schweigen der Unendlichkeit uns klein und einsam und verloren fühlen. Aber es fehlt in diesem Text der Ton der Verzweiflung und des Trotzes, den Nitzsche anschlägt.

 

Ja, es ist wahr: wir treiben über einem Abgrund, den wir nicht ausloten können. Alles, wir selbst, diese Welt und die, die wir lieben fällt ihm entgegen. Alles trägt ein Verfallsdatum:

„Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: es ist in allen."

 

„Und doch".

Ganz am Schluss fällt das entscheidende Wort. Dieser Einspruch gegen allen Augenschein und alle Erfahrung. Der Einspruch des Vertrauens, der diesem ganzen Text seinen Klang, seine ruhige irgendwie tröstliche Atmosphäre verleiht: das Trudeln der Blätter ist ein Bild der Vergänglichkeit von allem. Nicht aber der Vergeblichkeit.

Eine Begründung wird nicht gegeben. Grundloses Vertrauen gibt Halt über dem Abgrund.

Ist es vielleicht der Blick auf „diese Hand da", diese bestimmte Menschenhand, die herausgehoben ist aus der Anonymität, der dieses Vertrauen aufscheinen lässt?

Diese eine, bestimmte Hand, die wir halten möchten. Der wir ein Versprechen geben: ich lasse Dich nicht los! Niemals!

Ein Versprechen, von dem wir wissen, dass wir es von uns her nicht werden halten können. Weil alles fällt. Der geliebte Andere wie wir selbst. Und das wir dennoch geben, wenn wir lieben. Mit der Stimme des Herzens, das weitersieht als alle Vernunft:

„Und doch".

 

Um des Andern willen, der mich berührt, mit dieser Hand da, und der einen Namen hat und ein Gesicht, gibt es diesen Einspruch: Es kann nicht sein und darf nicht wahr sein, dass er untergeht in seiner Hinfälligkeit. Die Liebe kann sich nicht einverstanden erklären mit dem Untergang des Geliebten im Nichts, im Abgrund und Vergessen. Sie würde sich selbst dementieren.

Um dieses Andern willen und seinetwegen für die vielen andern und für alle, gilt der Einspruch des „Und doch".

Der Blick der Liebe sieht, was Vernunft und Erfahrung verborgen bleibt: All dieses scheinbar haltlose Treiben ist gehalten von einer geheimnisvollen Ordnung:

 

„Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält."

 

Was am Beginn dieses Gedichts im Blick auf das „Woher" noch eine vage Ahnung war, wird nun zum Bekenntnis: Wir kommen nicht aus dem Nichts, um ihm wieder anheimzufallen. Da ist doch „Einer" am Ursprung und am Ziel. Eine Liebe, für die unsere endliche, hinfällige Liebe, mit der wir einander halten wollen, nur ein Bild gewesen ist: „unendlich sanft" ist unser Fallen von ihm umfangen.

 

Es bleibt dabei: „Wir alle fallen. Diese Hand da fällt".

Und es gibt keinen Beweis, dass darüber hinaus über unser Leben noch viel mehr zu sagen wäre.

Wer dieses Fallen aber als einen Sprung in solches Vertrauen vollzieht, dem kann es sich verwandeln: dem schwindet die Angst, jener Schwindel, der einen befällt, wenn man in eine gähnende Tiefe schaut,

der lernt (vielleicht ganz allmählich) sein Fallen als Hingabe zu vollziehen

und sich dem Abgrund einer grundlosen und unergründlichen Liebe überlassen, dem Schweigen jenes Geheimnisses, das wir Gott nennen, in dem wir gehalten sind und aufgefangen werden.

 

Heute, an Allerseelen, wird uns das wieder zugesagt: im Hinblick auf die, die wir betrauern, weil wir sie geliebt haben und die wir doch nicht halten konnten und als Ruf ins Vertrauen an uns:

Dass wir nicht tiefer fallen können als in Gottes Hand.

 

Kein Beweis wird uns geliefert. Nur der Einspruch des „Und doch". Auch in der Lesung ist er uns begegnet, als Einladung zum Vertrauen und zum Sprung in den Glauben:

 

„Fürchte dich nicht! (. . .) Ich rufe dich bei deinem Namen. Mein bist du!"