Allerseelen - Pfr. Stefan Schäfer

Datum:
Mo. 2. Nov. 2015
Von:
Pfr. Stefan Schäfer

Allerseelen - Pfr. Stefan Schäfer

Liebe Schwestern und Brüder !

„Geh nicht vorüber, treuer Bruder und lies!"

So steht es auf der ältesten Grabplatte im Kreuzgang von St. Stephan, dem Gedenkstein des Propstes Wignandus von 1048. Allerdings ist die Inschrift nur noch schwer zu entziffern. Es braucht etwas Zeit und Mühe bis man entschlüsselt (und übersetzt ) hat, was Wignandus den Vorübergehenden mitgeben wollte, ehe sie weiterziehen:

„Uns, die wir Erde sind, erwartet alle ein einziges Ende", so steht da geschrieben, „und keines Menschen Verdienst verhindert diesen Untergang".

Darum also nennt Wignandus den Leser seinen „Bruder": Weil wir alle das gemeinsame Schicksal teilen, mit unserem Leben unausweichlich dem Tod entgegen zu laufen. Weil es uns zu Menschen macht, darum zu wissen. Und weil unser aller Leben doch auch darin seine Form und Gestalt gewinnt, wie wir uns zu dieser Tatsache verhalten und zu den Fragen, die sie aufwirft.

Wie dieser Mensch einer längst vergangenen Zeit fragen auch wir uns, worin denn der Sinn des Ganzen besteht, wenn schließlich doch alles dem „Untergang" entgegengeht. In unseren Verdiensten? In dem, was wir im Leben geleistet und wohin wir es gebracht haben? Ganz gewiss nicht, in dem, was wir verdient haben. Im Guten, vielleicht, das wir getan, in der Liebe, in der wir uns verschenkt haben. Wird davon etwas bleiben oder wird auch das in jenen „Untergang" mit hineingezogen?

Stärker als Menschen früherer Zeiten sind wir versucht, diese Fragen beiseite zu schieben und doch einfach weiterzugehen in unseren Alltag mit seinen Sorgen und Geschäften.

„Geh nicht vorüber", mahnt der Gedenkstein des Propstes Wignandus.

In den Bräuchen des Totengedenkens im Monat November, an Allerseelen, dem Volkstrauertag, am Totensonntag, lebt, auch für die, die nicht mehr glauben können, eine Ahnung fort: dass wir etwas von unserer Menschlichkeit aufgeben würden, wenn wir über unsere Toten hinweg einfach zur Tagesordnung übergehen.

Was wäre das für ein Glück, für ein Lebenssinn, dem wir Hinterbliebenen hinterherjagen und dabei die Toten vergessen? Leer und hohl würde das alles, wenn es nur für die Lebenden reserviert wäre. Das Gedächtnis der Toten hält die Frage offen, die den Menschen vielleicht erst zum Menschen macht: die Frage über die von uns her unüberwindliche Grenze des Todes und dem „Untergang", dem wir unausweichlich entgegenlaufen hinaus nach einem Sinn, der trägt und wirklich allen gilt, die je das Licht der Welt -und ihre Dunkelheit- erblickt haben.

„Geh nicht vorüber, treuer Bruder . . .!"

Viele von uns unterbrechen in diesen Tagen den Lauf der Dinge für einen Moment und besuchen die Gräber ihrer Verstorbenen. Und es wird uns bewusst: auch wir haben Freunde und Brüder unter den Toten. Wie denken an sie. Und wir hoffen für sie und für uns: dass ihr Leben einen Sinn gefunden hat, dass da doch etwas bleibt und der Tod nicht nur ein Untergang ist, sondern auch eine Ankunft am Ziel, zu dem wir alle durch unser ganzes Leben hindurch unterwegs sind.

So haben wir im Tagesgebet am Beginn dieses Gottesdienstes gebetet: „Stärke uns in der Hoffnung, dass Du unsere Brüder und Schwestern auferwecken wirst zum ewigen Leben".

Stärke uns in der Hoffnung für den andern und für uns selbst, für den Weg unseres gemeinsamen Menschseins.

Amen