Karfreitag - Pfr. Stefan Schäfer

Datum:
Fr. 14. Apr. 2017
Von:
Pfr. Schäfer

Karfreitag - Pfr. Stefan Schäfer

Liebe Schwestern und Brüder,

in der frühesten Überlieferung der Leidensgeschichte, im Markusevangelium, stirbt Jesus mit einem Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" In der späteren Überlieferung wird, so scheint es, die Anstößigkeit dieses Schreis dann immer mehr abgeschwächt. Wie kann es sein, dass Gottes Sohn an Gott zu zweifeln scheint? „ Wo bist du Gott? "
Es ist die Karfreitagsfrage schlechthin, vor der wir heute unausweichlich gestellt sind. Was ist das Kreuz, das uns heute enthüllt und vor Augen gestellt wird, damit wir es neu sehen lernen, jenseits unserer Gewöhnung daran, zunächst denn anderes als ein Galgen, an dem ein Unschuldiger unsäglich grausam zu Tode gequält wird? Der Inbegriff für alles Unheil, alles Sinnwidrige, alle Gewalt und Zerstörungsmacht der Menschen in dieser Geschichte, Jenseits von Eden" ausgeliefert sind?
Wo ist Gott? Wenn Unschuldige leiden? Im Leiden der Kinder? Wenn der Gerechte gefoltert
wird?

Im Mai 1944 wird ein 15 jähriger jüdischer Junge mit seiner ganzen Familie von den Nazis nach Auschwitz deportiert. Jahre später wird er, Elie Wiesel, der als einziger seiner Angehörigen überlebt, Zeugnis geben, den Opfern, indem er ihre Geschichte erzählt, ihren Namen, ihre Würde zurückgeben wollen. Von ihm stammt der folgende Bericht:

„Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Antreten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen. Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz. Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS Männer traten an seine Stelle. Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt.
„Es lebe die Freiheit!" riefen die beiden Erwachsenen.
Das Kind schwieg.
„Wo ist Gott, wo ist er?" fragte jemand hinter mir.
Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter.
„Mützen ab!" brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. „Mützen auf!" Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Aber der dritte Strick hing nicht reglos. Der leichte Knabe lebte noch.
Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorbeischritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen:
„Wo ist Gott?"
Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: „Wo ist er? Dort - dort hängt er, am Galgen ...""

Wo ist Gott? Dort, dort hängt er, am Galgen. Ist das eine Antwort?
Ich möchte diesen erschütternden Bericht aus Auschwitz nicht vorschnell auf das Kreuz von Golgota beziehen. Das Zeugnis, das Elie Wiesel gibt, ist das Zeugnis eines Juden. Das verbietet eine Vereinnahmung. Nur zwei Gedanken möchte ich anschließen:

Die Stimme, die der junge Elie Wiesel in seinem Innern hört, ist das Echo der
jahrtausendealten Überlieferung seines Volkes. So bekennt ihn die Bibel: Gott ist ein
Liebhaber des Lebens. Zwischen den Henkern und ihren Opfern steht er leidenschaftlich auf der Seite der Opfer. Er ist kein unparteiischer Zuschauer des Weltgeschehens, sondern nimmt Partei für die Leidenden, um ihr Leben gebrachten. Gott leidet da, wo Menschen leiden. Deshalb hängt er am Galgen.
Das ist das erste, was wir auch als Christen heute bedenken sollen, wenn wir in der Liturgie des Karfreitags das Kreuz verehren. „Seht das Holz des Kreuzes": Wir wollen uns nicht abwenden, die Augen verschließen in der Versuchung das Leid und die Leidenden zu verdrängen. Wie wir es wohl gerne tun würden, in unserem nur allzu menschlichen Bestreben, das Leid zu vermeiden, es zu umgehen und uns auf die Seite der Sieger zu schlagen. „Dort hängt er": In das Elend seiner leidenden Geschöpfe steigt Gott herab, um hier Wohnung zu nehmen. Wo ist Gott in dieser von Ungerechtigkeit und Gewalt zerrissenen Welt? Eine erste Auskunft lautet: In dieser Welt wie sie ist, sind die Opfer, die unschuldig Leidenden Gottes Exil. Wenn wir uns ihnen zuwenden, werden wir ihm begegnen.
Deshalb lässt die Liturgie des heutigen Tages uns niederknien vor dem Kreuz, wie Mose vor dem brennenden Dornbusch: Wo Gewalt das Leben verwundet in Auschwitz und auf Golgota und wo immer uns die Kreuze begegnen, die Menschen Menschen antun, ist heiliger Boden,
begegnet uns Gott, auf der Seite der Opfer, ruft uns an, sind wir herausgefordert zur Antwort.

Ein zweiter Gedanke:
Im Namen dieses Gottes, der leidenschaftlich auf der Seite der Opfer steht, so, dass er selbst uns in ihnen begegnet, ist Jesus aufgetreten: In den Gesichtern der Unterdrückten, all der von offener und verdeckter Gewalt Verwundeten, hat er den Abglanz der Gegenwart Gottes entdeckt. Und im Namen seines Vaters im Himmel Partei ergriffen für das beschädigte Leben. Er hat sich ihrer angenommen. So sehr, dass er die Wunden, die er berührt hat, schließlich am eigenen Leib mitgetragen hat.
Jesus hat das Kreuz nicht gesucht. Er hätte es gerne vermieden. Gott braucht das Kreuz seines Gesandten nicht, um verherrlicht zu werden. Aber es liegt in der Konsequenz seines Weges.
Während wir unseren Frieden machen mit den Verhältnissen, auch wenn sie ungerecht sind, auch wenn sie bedeuten, dass Menschen auf der Strecke bleiben, geht Jesus den Weg der Identifikation mit den Leidenden, den Weg seiner Liebe bis zum Ende. Diese Liebe bedarf des Kreuzes nicht. Aber de facto kommt sie ans Kreuz, weil Jesus ihr treu bleibt, als der Zeuge Gottes für das Leben in einer Welt, die auf Gewalt und Unterdrückung aufbaut,
Das ist das zweite, das wir als Christen sehen, im wie auch immer angefochtenen Glauben, wenn uns das Kreuz Jesu gezeigt wird: Die Liebe Gottes, die sich restlos einlässt auf das Leid und die Ohnmacht des Menschen, Gott, der sich mit seinen gequälten Geschöpfen so sehr identifiziert, dass aus dem Leiden des Menschen das Leiden Gottes wird, eine Liebe, die mit dem Geliebten eins wird.
Und die auch uns nicht fallen lässt in unserem Leid, in unserer Angst, auch da noch, wo kein Mensch uns mehr wird halten können.

Wo ist Gott? Dort, dort hängt er, am Galgen. Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen.