Pilgerbericht

Werner Dahmen (c) Werner Dahmen
Werner Dahmen
Datum:
Mo. 14. Nov. 2022
Von:
Werner Dahmen

Im Sommer 2000, als mein Pilgerweg mit dem Fahrrad von Zornheim nach Santiago de Compostela mit dem Be-such der Kathedrale am Grab des Apostels Jakobus des Älteren endete, spürte ich aufgrund der Erlebnisse, Ereignisse, Begegnungen und Erfahrungen eine tiefe Sehnsucht, den Jakobsweg, den Camino de Santiago noch einmal zu Fuß aufzunehmen, sobald die Zeit gekommen ist. Und die Zeit, vor allem Freizeit war mit meinem 70. Geburtstag in 2020 gekommen. Aber die Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie ließen es nicht zu, mich auf die Pilgerreise zu begeben.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, dachte ich und zielte auf das Frühjahr 2022, in der Hoffnung, dass sich bis dahin die Rahmenbedingungen für mein Vorhaben günstiger gestaltet haben. Konditionell und konstitutionell gut vorbereitet, mit dem Pilgerpass ausgestattet, den Rucksack mit der Jakobsmuschel gekennzeichnet und mit dem Notwendigsten bei individueller Gewichtsgrenze von 11 Kg gepackt, gestärkt mit einem geistlichen Impuls und dem Pilgersegen unseres Pfarrers Hubert Hilsbos sowie nach herzlicher Verabschiedung und nicht einfachem Loslassen von meiner Familie, brach ich nach dem herausragenden Kapellenfest in Zornheim am Mittwoch, den 18. Mai 2022 nach Santiago de Compostela auf.

Bis nach Sörgenloch ging es noch, aber dann zog es sich auf den restlichen 2.750 km über Saarbrücken, Metz, Toul, Dijon, Taizè, Cluny, Le Puy-en-Velay (Via Podiensis), das Zentralmas-siv, Conques, Cahors, Moissac, Saint-Jean-Pied de Port (Camino Francès), Pyrenänen, Ronceval-les, Pamplona, Puente la Reina, Logrono, Burgos, die Meseta, Leon und Sarria bis nach Santiago de Compostela, das ich nach 105 Tagen am 30. August 2022 erreichte. Unter Berücksichtigung von vier Ruhetagen unterwegs, z. B. zwei Tage in Taizè, legte ich durchschnittlich täglich etwa 27 km zurück, wobei einige Tagesetappen aufgrund der spärlichen Unterkunftsmöglichkei-ten, insbesondere in Lothringen, auch bis zu
40 km betrugen. Diese Herausforderungen waren jedoch unproblematisch, da das Wetter hervorragend mitspielte, nur vier Regentage auf der gesamten gut 100-tägigen Pilgertour.

Auch die zahlreichen heißen Tage in diesem Sommer waren kein unüberwindbares Hindernis, da ich stets genug Trinkwasser mitführte und die Gefäße immer wieder an den ausreichend vorhandenen Wasserstellen nach-gefüllt werden konnten. Im Übrigen war die Hitze erträglich, wenn der Weg durch Schatten spendenden Wald führte. Und in offenen Landschaften war der Hut ein wichtiges Kleidungsstück.

Hilfreich war es auch, morgens um 4.00 Uhr aufzubrechen, um die Nachtkühle zu nutzen, den neuen Tag mit dem herrlichen Sonnenaufgang zu begrüßen und gegen Mittag, wenn die Temperaturen sich den 40° C näherten, die Etappe zu beenden. Für die Natur weniger, aber für die Pilger hatte das niederschlagsarme Wetter unter anderem den Vorteil, dass bei täglicher Wäsche die Kleidungsstücke schnell trockneten. Hinzu kam, dass man morgens immer in trockene Schuhe steigen konnte.

Hinsichtlich der Infrastruktur, z. B. Wegkennzeichnung, Unterkünfte etc. ist meines Erachtens auf den ersten rund 1.200 km des Jakobswegs von Zornheim bis Le Puy-en-Velay noch einiges zu optimieren, während sie auf dem Via Podiensis und Camino Francès hervorragend auf die Bedürfnisse der Pilger ausgerichtet ist. Der unterschiedliche Entwicklungsstand lässt sich sicherlich auch auf das Pilgeraufkommen zurückführen. So sind mir von zu Hause bis Le Puy-en-Velay nur 10 Pilger begegnet, während es ab dort bis zum Ziel tausende von allen Erdteilen waren, ohne dass es Schwierigkeiten bei den Unterkünften, Versorgungen und Verständigungen gab. Vor diesem Hintergrund war mein Jakobsweg ungefähr zweigeteilt und durch eine individuelle bzw. soziale Komponente geprägt.

In den ersten 44 Tagen, in denen ich mehr oder weniger alleine unterwegs war, spürte ich unter offenem Himmel durch die Verbundenheit zur Natur und den intensiven Kontakt zum Boden die belebende Wirkung auf Leib und Seele. Hinzu kam das Innehalten, Verweilen und die Kraftschöpfung durch Einkehr in kleine Gotteshäuser und Kathedralen am Weg. Nicht zuletzt öffneten das Schweigen, die Gebete, die Meditation etc. unterwegs das Tor der Selbst- und Gotteserfahrung mit Orientierungshilfen für den Lebensweg.

„Es sind aber die Begegnungen mit Menschen, die das Leben so lebenswert
machen“ (Guy de Mauspassant, französischer Erzähler und Novellist). Das kann ich durch die zahlreichen interessanten Begegnungen und Bekanntschaften mit vielen netten, freundlichen, liebenswerten, gleichgesinnten und einzigartigen Menschen aus aller Welt auf dem anschließenden 60-tägigen Abschnitt meiner Pilgerreise bestätigen. Nicht nur unterwegs, vor allem am Ende der Tagesetappen in den gastfreundlichen Herbergen (Gite, Refugio), z. B. in kirchlichen, kommunalen, pri-vaten Unterkünften oder Klöstern fand Gemeinschaft jeden Alters unterschiedlicher Kulturen, Konfessionen und Religionen statt, beispielsweise durch Austausch der Erlebnisse während des Tages oder der Lebensgeschichten beim Essen, Beten oder in den Pilgermessen, in denen jeder seine Gedanken vortragen konnte. Das alles schenkte auch Geborgenheit und Heimat in der Ferne.

Über den Monte do Gozo „Berg der Freude“, der wohl Glücksgefühle bei allen Pilgern auslöst, wenn sie in der Ferne das ersehnte Pilgerziel erkennen, näherte ich mich mit Riesenschritten der Kathedrale von Santiago de Compostela. Dort angekommen, konnte ich gleich an einem feierlichen Pilgergottesdienst teilnehmen, in dem ausnahmsweise aus liturgischem Anlass auch noch der Botafumeiro, ein über 50 kg schwerer und 1,5 m hoher Weihrauchkessel im Bogen von 65 m Länge durch das Querschiff der Kathedrale geschwenkt wurde. Überglücklich dankte ich Gott, dass ich mit 72 Jahren die Pilgerreise unversehrt geschafft hatte und mit bleibenden Erinnerungen beschenkt wurde. In den Dank einbezogen habe ich aber auch alle Menschen, die mich auf vielfältige Weise vor und auf dem Weg unterstützt haben, so dass die Pilgerreise zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde.

Als weiteren Höhepunkt der Pilgerreise besuchte ich die Krypta mit dem Sarkophag des Heiligen Jakobus. Leider konnte ich nicht wie im Jahr 2000 die große Santiago-Figur hinter dem Hauptaltar umarmen, da die aktuellen Corona-Hygienebestimmungen dies nicht
zuließen.

Zum Abschluss ließ ich mir noch meine „La Compostela“, ein lateinisch abgefasstes Schriftstück im Pilgerbüro ausstellen, das jeder Pilger erhält, wenn er unter anderem min-destens 100 km zu Fuß bis zum Apostelgrab zurückgelegt hat und dies durch Stempel im Pilgerausweis nachweisen kann. Nach einem eintägigen Abstecher nach Finisterre (antikes Ende der Welt) sowie Muxia am atlantischen Ozean und anschließenden drei Tagen in der belebten und sehenswerten Stadt Santiago de Compostela mit UNESCO-Weltkulturerbe-Status trat ich die Heimreise an. Das was ich in 105 Tagen zu Fuß geschafft hatte, legte ich nun in zweieinhalb Stunden mit dem Flugzeug zum Airport Frankfurt-Hahn zurück, wo mich die ganze Familie freudig empfangen hat.

Ultreya! Auf, dem Ziel entgegen! Mit diesem spanischen Grußwort der Pilger ermuntere ich all diejenigen, die die Faszination und das Geheimnis des Pilgerns auf eigenen Füßen erleben wollen, den Jakobsweg ganz oder in Teilabschnitten zu gehen. Es lohnt sich!