Liebe Gemeinde!
„Ich habe einen Traum!“ Mit diesen Worten hat sich der US-amerikanische Baptistenpastor und Freiheitsrechtler Martin Luther King in seiner beeindruckenden Rede am 28. August 1963 beim Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit vor mehr als 250.000 Menschen vor dem Lincoln Memorial in Washington in unser Gedächtnis eingebrannt. Er träumte von einem Land, in dem alle Bürgerinnen und Bürger rechtlich, sozial, wirtschaftlich und politisch gleichgestellt sind. Wir haben es Freiheitskämpfern wie ihm zu verdanken, dass sich viele Verfassungen weltweit in dieser Hinsicht weiterentwickelt haben. Aber nicht nur damals, sondern auch heute setzen sich Persönlichkeiten für ihre Ideale ein: So wurde im Oktober die Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, die ebenfalls für Freiheitsrechte und gegen Korruption kämpft. Die Liste ließe sich fortführen.
Auch der Prophet Jesaja aus dem Alten Testament ist ein Träumer, mehr noch: ein Visionär, und zwar durch und durch von Gott inspiriert. Rund 700 Jahre vor Normalnull der Zeitrechnung kündigt er eine neue Legislaturperiode an. Er prophezeit eine lichtreiche Zeit, eine „große Herrschaft“ und einen „Frieden ohne Ende“ (vgl. Jesaja 9,1-6). Wir kennen solche Wahlversprechen, doch für Jesaja ist es kein leeres. Der Thronfolger, der nachrücken soll, ist anders als die anderen. Er sei ein „wunderbarer Ratgeber“, der „Vater in Ewigkeit“, ein „Fürst des Friedens“. Diese neue Regierung wird nicht von außen beeinflusst. Sie verfolgt keine parteipolitischen Eigeninteressen. Sie ist auch nicht auf die Gunst der Wählerinnen und Wähler angewiesen. Sie kann auch nicht abgewählt werden. Gottes Plan steht fest: Er will eine Koalition mit der Menschheit. Er will gemeinsam mit ihr die Welt verändern. Er will das „Reich Gottes“ schon hier und jetzt etablieren. Das ist sein Traum. Dafür wird er Mensch. An Weihnachten betritt er in Jesus Christus (parteilos) die Weltbühne. Unspektakulär, ohne vorherige Wahlkampfveranstaltungen. Aber sobald die Zeit reif ist, wird er hart, entschieden und überzeugend für seine Ziele arbeiten.
Auch heute noch, rund 2000 Jahre später, sind wir herausgefordert, daran zu arbeiten, unsere Träume zu verwirklichen. Das Projektziel lautet weiterhin, am „Reich Gottes“ mitzuarbeiten. Das Instrument hierfür ist die Kirche. Eine ewige Baustelle! Gerade in Bezug auf kirchliche Gestaltungs und Entwicklungsprozesse kommen nämlich etliche Visionen zusammen, sowohl von der Basis in den Gemeinden als auch von der Spitze in den Kirchenleitungen. Umfragen zeigen, wie weit die Meinungen auseinandergehen. Kompromisse zu finden und Entscheidungen zu treffen, die möglichst viele zufrieden stellen, ist nicht leicht. Ich ziehe den Hut vor allen, die Verantwortung in der Kirche tragen.
Auch wir haben in unserem Dekanat Mainz-Süd begonnen, in verschiedenen Arbeitsgruppen und Gremien an dem zukünftigen Bild von Kirche vor Ort in den Gemeinden zu arbeiten. Bezüglich der Struktur sind vier sinnvolle Modelle entwickelt worden, die nach einer Beratungsphase zur Abstimmung in der Dekanatsversammlung standen. Es hat sich herausgestellt, dass in unserem Dekanat die Mehrheit der Delegierten drei Pfarreien, deren Gebiete nahezu mit den Verbandsgemeinden Rhein-Selz, Nieder-Olm und Bodenheim deckungsgleich sein werden, als neue Struktur befürwortet. Dieses Votum wird an die Bistumsleitung weitergeleitet. Sobald eine Entscheidung des Bischofs feststeht, werden wir Sie informieren. Danach geht es in die zweite Phase des Pastoralen Weges, in der die Zusammenarbeit der bestehenden Pfarreien in den neuen Pastoralräumen beginnen kann, um schließlich bis spätestens 2030 zu fusionieren.
Auch ich habe einen Traum: Ich träume davon, dass es uns gelingt, diese kommende Zeit produktiv anzugehen und zu gestalten. Ich träume davon, dass wir keine Angst haben, etwas zu verlieren, sondern auf gemeinsame Ressourcen, Talente und Expertisen bauen. Ich träume von Christinnen und Christen, die andere mit ihrer positiven Art anstecken, die durch Freude neue „Jüngerinnen und Jünger Jesu“ gewinnen. Ich träume von Gemeinden, in denen auf die Prioritätenliste pastorale Projekte, Innovation und das Gemeinschaftserlebnis im Gottesdienst vor Geld, Äckern und Immobilien stehen. Ich träume davon, dass ich sowohl die Stärken als auch die Schwächen anderer aushalten kann und erst einmal offen bin für die Ideen anderer. Ich träume von Mitstreiterinnen und Mitstreitern, mit denen ich kontrovers, aber fair und respektvoll diskutiere. Ich träume davon, dass die Kirche ein „global player“ bleibt – nicht im Sinne einer Weltherrschaft oder einer Volkskirche –, sondern in kleinen, aber aktiven christlichen (idealerweise ökumenisch gesinnten und mit der Nachbarschaft kooperierenden) Gemeinden, die unter dem Dach der neuen großen Pfarrei aus ihrer Taufberufung heraus selbständig denken und handeln und so dem Reich Gottes unter den Menschen konkrete Gestalt verleihen.
Ich weiß, meine Traumnotizen klingen ziemlich pathetisch, aber nur wer Träume hat, kann aus ihnen etwas machen. Glauben Sie an sich und an Ihre Träume! Manche kommen sogar von Gott persönlich. In der Bibel gibt es zahlreiche Belege dafür.
Ich wünsche Ihnen allen von Herzen eine frohe und gesegnete Advents- und Weihnachtszeit! Bleiben Sie behütet und vor Ansteckung bewahrt.
Ihr Pfarrer Michael A. Leja