Abschlusskonzert des Internationalen Orgelsommers 2017

Choralbearbeitungen Johann Sebastian Bachs, Arvo Pärts "Spiegel im Spiegel" und Charles-Marie Widors sechste Orgelsymphonie in g-Moll

Orgelsommer 2017 (c) Bistum Mainz
Orgelsommer 2017
Datum:
Mi. 6. Sep. 2017
Von:
Daniel Beckmann
Am kommenden Samstagabend, den 9. September findet das achte und somit letzte Konzert des diesjährigen Internationalen Orgelsommers im Jubiläumsjahr "600 Jahre Mainzer Domorganisten" statt. Der Tradition folgend wird Domorganist Daniel Beckmann das Festivals beschließen. Konzertbeginn ist wie immer - entgegen des Druckfehlers im Programmheft - um 18:30 Uhr. Die Abendkasse öffnet um 18:00 Uhr. Auf dem Programm stehen drei große Choralbearbeitungen Johann Sebastian Bachs, Arvo Pärts "Spiegel im Spiegel" und Charles-Marie Widors sechste Orgelsymphonie in g-Moll.

In Johann Sebastian Bachs Fantasia super Valet will ich dir geben BWV 735 werden die einzelnen Choralzeilen sukzessive zunächst im Manual als Fugato präsentiert, bevor sie dann im Pedal erklingen. Die Bearbeitung des gleichen Chorals BWV 736 zeigt eine originelle Kombination subtiler Techniken der Motiv-Verarbeitung und Paraphrasierung. Die einzelnen dem Pedal zugewiesenen Choralzeilen sind jeweils mit einer paraphrasierenden Vorimitation der entsprechenden Choralzeile in Sechzehnteltriolen verbunden, wobei das Initialmotiv allgegenwärtig bleibt und dem aus bewegten Oberstimmen und längeren Cantus-firmus-Notenwerten im Pedal bestehenden Satz ein dichte motivische Kontingenz verleiht.

Die mit Schmücke dich, o liebe Seele BWV 654 bearbeitete Melodie ist ein Abendmahlslied. Schumann charakterisierte Bachs Komposition als „ein unschätzbares, seelentiefstes Musikstück, wie es irgendeinem Künstlergemüt entsprungen“. Tatsächlich zeichnen das Werk weniger kontrapunktische Künste als vielmehr die ausgesprochen lyrischen Begleitstimmen in der linken Hand aus. Der Cantus firmus geht sehr bald von längeren Werten in Melismatik über.

Christ, unser Herr, zum Jordan kam BWV 684 ist in Clavierübung III enthalten. Die drei Manualstimmen verbinden mehrere Motive und bilden das sog. Ritornell, das zwischen den einzelnen im Pedal erklingenden Melodiezeilen immer wiederkehrt. Ob die Sechzehntelbewegung in der linken Hand als Darstellung des fließenden Jordan zu verstehen ist, sei einmal dahingestellt.

Der estnische und heute in Berlin lebende Komponist Arvo Pärt darf zu den bekanntesten Protagonisten der zeitgenössischen Musik gezählt werden. Er begann als Avandgardist mit seriell konzipierten Stücken. Credo für Klavier, gemischten Chor und Orchester aus dem Jahr 1968 – eine Collage-Komposition in dem sich avantgardistische und alte Musik (in Gestalt von Bachs berühmtem C-Dur-Präludium aus dem Ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers) schroff gegenüberstehen – sollte für ca. 8 Jahre sein letztes Werk bleiben. Pärt sah sich aus vielfältigen Gründen einer massiven Schaffenskrise ausgesetzt und drohte vollständig zu verstummen. Mit Für Alina (1976) kreierte Pärt dann aber einen grundlegend neuen Personalstil, der als „Tintinnabuli“-Stil [von „tintinnabulum“ = Glöcklein] bezeichnet wird; sein Grundprinzip ist schnell erklärt: es gibt einen zweistimmigen Zentralsatz, innerhalb dessen sich eine Stimme stufenweise bewegt, die andere in Dreiklangsbrechungen (dies ist die „Tintinnabuli“-Stimme). Spiegel im Spiegel entstand 1978 für verschiedenen Besetzungen (Klavier und Melodieinstrument). Giovanni Battista Mazza richtete das Stück 2010 für Orgel ein. Die eine zentrale Schicht ist die Melodiestimme, die mit einem 4’-Register im Pedal zu spielen ist; sie entfaltet auf- und abwärts eine um den Zentralton „e“ (er bildet die horizontale Spiegelungsachse) beständig um eine Sekunde sich erweiternde Skala. Die andere zentrale Schicht bilden Dreiklangsbrechungen, die sich punktuell nach ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten ändern. Solche den jeweiligen Gerüstsatz einer Pärt’schen Komposition ergänzenden und höchst subtilen Regelwerke sind es, die den hohen ästhetischen Wert bzw. die Individualität jedes einzelnen Stücks ausmachen.

Charles Marie Widor, der 64 Jahre als Titularorganist an Saint-Suplice in Paris wirkte und ab 1896 zudem als Nachfolger Théodor Duboisʼ die Professur für Komposition am Pariser Conservatoire innehatte, ist im heutigen Konzertleben zwar nur noch mit seinen Orgelwerken präsent, bedachte als Komponist aber nahezu alle musikalischen Gattungen. Wiewohl Franz Liszt der Primat zukommt, mit seiner Fantasie und Fuge über den Choral »Ad nos ad salutarem undam« symphonischen Kompositionsprinzipien auf die Orgel übertragen zu haben, gilt Charles-Marie Widor (1844–1937) als der »Vater der Orgelsymphonie«, als Begründer jener Gattung, die vornehmlich in Frankreich beheimatet blieb.
Die Symphonie gilt schlechthin als die repräsentative Gattung der Instrumentalmusik. Während die These, das 19. Jahrhundert sei das der Symphonie, für weite Teile Europas und vor allem für Deutschland Gültigkeit hat – umso überraschender ist es, dass die Symphonie für Orgel in Deutschland unbekannt bleib (Sigfrid Karg-Elerts Fis-Dur Symphonie op. 143 [1930] blieb ein Solitär) –, sollte es in Frankreich bis in die 70er Jahre hinein dauern, ehe die Instrumentalmusik im Allgemeinen und die Symphonie im Besonderen die Vorherrschaft der Oper, sprich der Tragédie lyrique bzw. der Opéra comique, mindern konnte. César Francks d-Moll-Symphonie aber war es, die nicht zuletzt durch die Kompositionslehre d´Indys zum exemplum classicum der französischen Symphonie erhoben wurde, ja zum Werk, mit dem dessen Schöpfer das wahre Erbe Beethovens angetreten habe, wobei als entscheidendes Merkmal die zyklische Wiederkehr der Motive und Themen galt und in gewisser Weise auch die Dreisätzigkeit – Francks Werk verknüpft bekanntermaßen im Allegretto den langsamen Satz und das Scherzo der Symphonie. Nach den Bemühungen Alexandre Chorons und François-Joseph Fétis um eine Wiederbelebung der Kirchenmusik und der Orgelmusik in Frankreich, bedeutet die Grande pièce symphonique (1863) von César Franck einen Markstein im Hinblick auf die Übertragung kompositorischer Prinzipien Beethovens – d. i. die mehrteilige zyklische Anlage – auf die Orgel. Das einsätzige Werk ist unverkennbar in unterscheidbare Teile gegliedert, die allerdings durch motivisch-thematische Arbeit zusammengehalten werden. In der ersten Auflage des Erstdrucks wird das Werk sogar als „Symphonie“ überschrieben. Dass Franck und – anders als Alexandre Guilmant, der noch von „Sonate“ spricht – Charles-Marie Widor im Falle von Orgelmusik auf den Begriff „Symphonie“ zurückgreifen, wiewohl dieser in der kompositorischen Praxis ihrer Landsleute kaum schon einen Niederschlag gefunden hat, muss erstaunen, um so mehr, als die Gattung doch in der weltlichen Domaine beheimatet ist. Wiewohl von orchestraler Klangfülle beherrscht, muss man allerdings konzedieren, dass Widors Orgelsymphonien 1 bis 6 hinter diesem von Franck für die Orgel realisierten, durch Beethoven gesetzten kompositorischen Standard zurückbleiben insofern, als Zyklizität nicht durch thematische Verwandtschaft entsteht, sondern allenfalls, wie in der 5. Symphonie, angedeutet wird durch motivisch-intervallische Beziehungen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die 5. (op. 42 Nr. 1) zur bekanntesten Orgelsymphonie überhaupt avancieren konnte. Ihr Schwesterwerk, die 6. (op. 42 Nr.2), steht ihr nur wenig nach. Die VI. Symphonie op. 42 Nr. 2 entstand anlässlich der Errichtung der großen Cavaillé-Coll-Orgel des für die Weltausstellung errichteten Palais du Trocadéro in Paris und wurde in einer Erstfassung am 24. August 1878 in einem der Einweihungskonzerte vom Komponisten uraufgeführt.
Der Eingangssatz („Allegro“) darf man getrost zu Widors inspiriertesten und kunstvollsten Kompositionen zählen: Die Exposition des Themas im vollen Werk der Orgel schlägt den Hörer unmittelbar in seinen Bann. Der zweite thematische Gedanke begegnet, durchaus ungewöhnlich, in der Gestalt eines quasi rezitativischen Abschnitts. Die Entwicklung des Satzes beruht auf Wiederholung und verschiedenen Weisen der Kombination beider Themen. Das „Adagio“ ist ein ausgesprochen lyrischer, harmonisch gehaltvoller und von komplexerer Rhythmik geprägter Satz mit einem kurzen, etwas bewegteren Mittelteil. Der III. Satz, „Intermezzo“, ist ein effektvoller (brillante staccatierte Arpeggio-Figuren) und, wie Ben van Oosten durchaus zu Recht feststellt, an Schumann gemahnender Scherzo-Satz mit virtuosen Arpeggio-Figuren in den Rahmenteilen und einem kanonischen Mittelteil, der die Stelle des Trios im klassischen Scherzo einnimmt. Das „Cantabile“ beherrscht, wie die Satzüberschrift ahnen lässt, eine mit dem Oboenregister zu spielende anmutige Melodie, die im Mittelteil von einer Sechzehntelbewegung umrankt wird. Der Schlusssatz ist ein – vielleicht etwas zu sehr auf äußerliche Wirkung hin konzipiertes – Rondo, dessen Grand Couplet (Refrain) aus vollgriffigen, rhythmisch pointierten Akkorden besteht.

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