Der Angriff im Westen

Ökumenische Ausstellung dokumentiert die NS-Besatzung der Benelux-Staaten

Nach der Befreiung, Ausstellung (c) ök. Arbeitsgruppe, Gedenktag
Nach der Befreiung, Ausstellung
Datum:
Mo. 22. Jan. 2018
Von:
ath(MBN)
Die Ausstellung ist vom 24. bis 31. Januar in der Mainzer Christuskirche zu sehen, vom 1. bis 10. Februar in der ESG-Kirche, Am Gonsenheimer Spieß 1, vom 15. bis 19. Februar im Mainzer Dom und vom 20. Februar bis 25. März im Jugendhaus Don Bosco, Am Fort Gonsenheim 54, in Mainz.

Mainz. Seit acht Jahren präsentiert die ökumenische Arbeitsgruppe 27. Januar anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus inhaltlich wechselnde Ausstellungen. Wenn es um die Gewalt- und Kriegsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschland im Zweiten Weltkrieg geht, richtet sich der Blick oft wie selbstverständlich in Richtung Osten. Aus guten Gründen. Aber auch im Norden, im Süden und im Westen hat die Politik der Nationalsozialisten viele Opfer gefordert und großes Leid angerichtet. An die Verbrechen und Schandtaten im Westen erinnert nun eine Ausstellung der ökumenischen Mainzer Arbeitsgruppe Gedenktag 27. Januar unter dem Titel „Im Schatten der Erinnerung". Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, die stellvertretende Präses von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Pfarrerin Dr. Susanne Bei der Wieden, und der rheinland-pfälzische Landtagspräsident Hendrik Hering werden die Ausstellung am Mittwoch, 24. Januar, um 18.00 Uhr in der Mainzer Christuskirche eröffnen.

Gemeinhin verbindet man den Beginn des Zweiten Weltkrieges mit dem deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939. Dabei wird jedoch oft außer Acht gelassen, dass Polen bereits am 6. Oktober kapitulierte, ohne dass Großbritannien oder Frankreich, die mit Polen verbündet waren, auf den deutschen Angriff militärisch reagiert haben. Die nun folgende Phase ist als „drole de guerre", als „seltsamer Krieg" in die Geschichte eingegangen. Aus deutscher Sicht herrschte weitgehend Waffenruhe. Erst am 10. Mai 1940 setzten die Deutschen den Krieg fort - mit dem Einmarsch in die westlichen Nachbarländer Belgien, Luxemburg und die Niederlande. Dieser Angriff war nicht rassenideologisch motiviert, sondern militärstrategisch, betont Peter-Otto Ullrich von der ökumenischen Arbeitsgruppe 27. Januar.

Das strategische Ziel des deutschen Überfalls auf die neutralen westlichen Nachbarländer war Frankreich. Hitlers Truppen sollten auf diese Weise die „Maginot-Linie" umgehen, das ab 1930 aus Bunkern errichtete Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg, Deutschland und Italien. „Die Niederlande und Belgien galten als strategische Sicherung gegen Frankreich und England, um den späteren Krieg gegen die Sowjetunion abzuschirmen", erläutert Ullrich. Dass die Flamen und Niederländer aus Sicht des deutschen NS-Regimes als „blutsverwandte germanische Brudervölker" und die Luxemburger als „eigentlich" Deutsche galten, wurde der angestrebten deutschen Vorherrschaft in Europa untergeordnet.

In Luxemburg stießen die Invasoren nur auf geringen Widerstand. Sie wurden von Deutschen, die dort lebten, unterstützt. Am Abend des 10. Mai war ganz Luxemburg besetzt. Am 14. Mai vernichteten deutsche Bomben die Innenstadt von Rotterdam. Dabei kamen rund 1.150 Menschen ums Leben. Am Tag darauf kapitulierte die niederländische Armee. Belgien kapitulierte nach 18 Tagen, am 28. Mai.

Auf 16 Tafeln präsentiert die ökumenische Arbeitsgruppe, welcher Gewalt die Menschen in den westlichen Nachbarländern in den folgenden Jahren bis zur Befreiung durch die alliierten Truppen ausgesetzt waren. Das Ausmaß der Vernichtung der Juden sowie der Sinti und Roma stand dem Fanatismus, mit der die Nazis im Reich selbst und im Osten vorgingen, um nichts nach. 25.000 Juden wurden aus Belgien in die Vernichtungslager deportiert, 105.000 aus den Niederlanden - das waren 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung - und 1.945 aus Luxemburg. „Was die Judenvernichtung anbetrifft, sind die Niederlande das Polen des Westens", sagt Peter-Otto Ullrich.

Die Zahl der ermordeten Sinti und Roma ist nicht abschließend bekannt: Am 15. Januar 1944 wurde ein mit Buchstaben „Z" gekennzeichneter Sammeltransport aus Belgien nach Auschwitz mit 351 Sinti und Roma zusammengestellt und am 19. Mai 1944 verließ ein Deportationszug mit 245 niederländischen Sinti und Roma das Durchgangslager Westerbork in Richtung Auschwitz. Nur wenige der Deportierten überlebten.

Ausführlich wird die Unterdrückung der Menschen in den besetzten Ländern dokumentiert. Luxemburg wurde annektiert und in den „Gau Moselland" eingegliedert, den vorherigen Gau Koblenz-Trier. Viele Belgier erlebten ein schreckliches Déjà-vu: Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg wurden wach, als Belgien von deutschen Soldaten überfallen wurde. Bis Mitte Juli 1944 war Belgien ausgerechnet unter dem Militärbefehlshaber General Alexander von Falkenhausen besetzt, einem Neffen des Generalgouverneurs für Belgien während der ersten Besatzungszeit 1914 bis 1918. „Auch gegen die Niederländer hat das deutsche Besatzungsregime unglaublich brutal durchgegriffen", erläutert Ullrich. Dies geschah durch die Zuführung von Zwangsarbeitern in das Reichsgebiet und die Ausbeutung der niederländischen Wirtschaft und Landwirtschaft zur Versorgung der reichsdeutschen Bevölkerung. Dies führte 1944/45 zum „Hungerwinter" in den noch nicht befreiten Gebieten der Niederlande, bei dem geschätzt mehrere zehntausend Menschen verhungert sind.

Dieses Leid hat in den westlichen Nachbarländern lange Jahre nachgewirkt. Der Wunsch nach Anerkennung des zugefügten Leids wurde erst spät erfüllt - teilweise erst Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Bundespräsident Joachim Gauck fand am Nationalen Befreiungstag der Niederlande am 5. Mai 2012 in Breda solche Worte: „Verbunden fühlen wir uns auch in der Trauer, wenn wir heute der mehr als 100.000 niederländischen Juden gedenken, die der Ausrottungspolitik Hitlerdeutschlands zum Opfer fielen. Es war ja die Niederlande Zufluchtsort für viele Juden aus meiner deutschen Heimat geworden, darunter auch für Anne Frank und ihre Eltern." Und, so Gauck weiter: „Ich denke nicht zuletzt an Hundertausende Niederländer, die zum Arbeitseinsatz nach Deutschland deportiert wurden. An so viele, die Hunger, Zwangsevakuierungen und den Verlust der Heimat erleiden mussten."

Und noch ein Zitat beeindruckt am Ende der Ausstellung. Es stammt von Etty Hillesum: „Das ist das Problem unserer Zeit. Der große Hass gegen die Deutschen, der das eigene Gemüt vergiftet. Sollen sie doch alle ersaufen, dieses Pack; solche Äußerungen gehören zur alltäglichen Konversation. Bis mir vor einigen Wochen der erlösende Gedanke kam: Und sollte es nur einen einzigen anständigen Deutschen geben, dann wäre dieser es wert, in Schutz genommen zu werden, und um dieses einen anständigen Deutschen willen dürfe man seinen Hass nicht über ein ganzes Volk ausgießen." Dies schrieb Etty Hillesum am 15. März 1941 in ihren Tagebüchern. Etty Hillesum, 1914 geboren, war eine niederländisch-jüdische Lehrerin. Sie wurde am 30. November 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet.

Die Ausstellung ist vom 24. bis 31. Januar in der Mainzer Christuskirche zu sehen, vom 1. bis 10. Februar in der ESG-Kirche, Am Gonsenheimer Spieß 1, vom 15. bis 19. Februar im Mainzer Dom und vom 20. Februar bis 25. März im Jugendhaus Don Bosco, Am Fort Gonsenheim 54, in Mainz. Am Sonntag, 28. Januar, findet ab 19.00 Uhr in der ESG-Kirche ein ökumenischer Gottesdienst zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus statt.