Schwester Ancilla-Maria Ruf (83) vor dem Provinz-Mutterhaus. Sie war von 1987 bis 2000 Provinzialoberin. (c) Anja Weiffen/ Kirchenzeitung

101 Jahre auf dem Rochusberg

Schwester Ancilla-Maria Ruf (83) vor dem Provinz-Mutterhaus. Sie war von 1987 bis 2000 Provinzialoberin.
Datum:
Mi. 20. Okt. 2021
Von:
Anja Weiffen

Die Kreuzschwestern auf dem Binger Rochusberg vermitteln die Botschaft der heiligen Hildegard. Sie leben aber vor allem aus der Spiritualität ihrer Gründerin Adèle de Glaubitz. Schwester Ancilla-Maria Ruf spricht in der aktuellen Ausgabe der Kirchenzeitung über den Geist des Ortes.

Eine Hildegard aus Stein steht vor dem Provinz-Mutterhaus der Kreuzschwestern. Das Kunstwerk zeigt, wie Hildegard von Bingen ein blindes Kind heilt. Ein wohltuendes Zeichen am Eingang des Gebäudes mit seinem nüchternen 60er-Jahre-Charme. Genauso wohltuend ist der freundliche Empfang von Schwester Ancilla-Maria Ruf und einer Mitschwester an der Klosterpforte. Die Menschen waren sich des besonderes Ortes hier oben auf dem Binger Rochusberg schon früher bewusst. Im Empfangsraum des Klosters hängt das Bild einer Villa im Stil der Jahrhundertwende. Schwester Ancilla-Maria nimmt die Schwarz-Weiß-Fotografie von der Wand. „Hier an dieser Stelle stand früher das Hotel Rochusberg. Heute würde man so ein Gebäude wohl nicht mehr abreißen“, sagt sie.

Als Mädchen sah Adèle täglich Armut und Elend

Seit 101 Jahren leben und wirken hoch über dem Rhein Kreuzschwestern. Am 30. Oktober feiern die Ordensfrauen das Jubiläum mit einem Gottesdienst und einem Festakt für geladene Gäste nach. Wegen der Corona-Pandemie war die 100-Jahr-Feier im vergangenen Jahr verschoben worden.
Im Lauf der Jahrzehnte ist aus dem Wirken der Kreuzschwestern ein Gebäude-Ensemble erwachsen. Außer dem Provinz-Mutterhaus, dem Hildegard-Forum, einem Hotel und dem „Seniorenwohnen im Kloster“, gehört eine Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung dazu. Letztere ist Ausdruck des ursprünglichen Auftrags der Kreuzschwestern, benachteiligten Menschen in Not zu helfen. Schwester Ancilla-Maria erläutert die Geschichte des Ordens, der von Adèle de Glaubitz (1797 bis 1858) gegründet wurde. In jungen Jahren sah das Mädchen aus gutem Haus auf den Straßen ihrer Heimatstadt Straßburg täglich Armut und Elend. Ihr Mitgefühl hatte Folgen. „Sie nahm verwahrloste Menschen in das elterliche Haus auf. Das brachte ihr Konflikte mit ihrer Familie ein“, erzählt die Ordensfrau. „Adèle sah den Menschen. Sie nahm sich derer an, die anders waren.“ Später entwickelte sich aus ihrer beherzten Haltung ein Hilfswerk, dann eine Kongregation. „Adèle wollte die Hilfsbedürftigen nicht für ihre Zwecke einspannen, sondern war überzeugt, dass diese ein Recht hatten, ihren Platz in der Gesellschaft zu bekommen“, betont die Schwester. „Im Prinzip ist das die gleiche Not wie heute.“ Beim Blick auf die Ordensgründerin sei ihr das wieder ganz bewusst geworden. Ancilla-Maria Ruf erzählt vom Engagement der Binger Schwestern für Geflüchtete: Als Flüchtlinge in der Region untergebracht werden sollten, gab es in der Bevölkerung Vorbehalte, erzählt die Ordensfrau. Bei einer Bürgerversammlung traten die Schwestern für die Geflüchteten ein und schilderten dem Publikum deren Not.

„Hier sind Menschen offen für Gespräche“

Die Kreuzschwestern kamen 1920 auf den Binger Rochusberg und übernahmen dort ein Kinderheim. Bereits zuvor waren die Ordensfrauen in Bingen tätig. Zu den Aufgaben der Straßburger Kongregation gehörte schon zu Anfang die Erziehung junger Mädchen, Betreuung geistig behinderter Menschen, Bildung für blinde und sehbehinderte Kinder, Hilfe für Kinder und Jugendliche in Not. In den 1990-er Jahren kam die Frage auf, wie diese Ziele zeitgemäß weiterentwickelt werden könnten, berichtet Schwester Ancilla-Maria. „Was sind die Nöte der Zeit? Das haben wir uns gefragt. Unsere Antwort lautete, dass Menschen verstärkt unter Orientierungslosigkeit leiden, dass sie nach Sinn und Wegen in ihrem Leben suchen.“ 1997 wurde das Hildegard Forum eingerichtet, das sich bis heute der Botschaft der Hildegard von Bingen widmet und Menschen mit seiner Atmosphäre beeindruckt. Schwester Ancilla-Maria: „Hier ist ein besonderer Ort, hier sind Menschen offen für Gespräche.“
Adèle de Glaubitz und Hildegard von Bingen – der Geist der beiden Frauen ist auf dem Rochusberg durch das Wirken der Schwestern präsent. „Bei Hildegard geht es um Heil und Heilung, um etwas Ganzheitliches“, erläutert Ancilla-Maria Ruf. „Adèle hatte die ganzheitliche Bildung des Menschen im Blick. Von einem Besuch in der Schweiz brachte sie die Ideen des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi mit. Sie wollte, dass Benachteiligte menschenwürdig leben können. Diese Vision hat sie uns als geistiges Erbe hinterlassen.“
Um diese Werte zu schützen, baut die Kongregation zurzeit eine internationale Stiftung auf. Auch in Bingen machen die Schwestern ihre Einrichtungen zukunftssicher. In Deutschland gibt es aktuell 25 Kreuzschwestern, davon 22 in Bingen. Die Blütejahre des Ordens sind vorbei, dessen ist sich Schwester Ancilla-Maria bewusst. Dem Rochusberg aber wollen die Kreuzschwestern erst einmal treu bleiben.

Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 24. Oktober 2021. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf - 06131/28755-0 - oder E-Mail: info@kirchenzeitung.de

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