Kohlgraf: „Die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, war nie katholisch“

Stresemann-Rede zum Thema „Katholisch sein in der Welt von heute“ in Staatskanzlei

Mainz, 14. Juni 2019: Bischof Peter Kohlgraf im Gespräch mit Jürgen Erbacher (rechts) im Anschluss an die diesjährige Stresemann-Rede. (c) Bistum Mainz / Blum
Datum:
Fr. 14. Juni 2019
Von:
tob (MBN)

Mainz. „Ein theologisch fundiertes Verständnis von Katholisch-Sein kommt ohne Ringen im und um den Glauben nicht aus.“ Das betonte der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf im Rahmen der diesjährigen Stresemann-Rede am Freitagabend, 14. Juni, in der Mainzer Staatskanzlei.

Mainz, 14. Juni 2019: Bischof Peter Kohlgraf sprach zum Thema „Katholisch sein in der Welt von heute. Das Ringen um eine christliche Identität.“ (c) Bistum Mainz / Blum

Zwar könne ein Transformationsprozess belastend sein, aber „die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, war nie katholisch“, sagte der Bischof. „Sich der Wirklichkeit zu stellen, ist wohl eines der herausragenden Merkmale des Katholischen, weil es dem Wesen Gottes entspricht, der in seinem Sohn Fleisch annimmt, um sich der menschlichen Wirklichkeit auszusetzen - mit allen Konsequenzen. Billiger geht es dann für die Kirche auch nicht.“ Kohlgraf sprach zum Thema „Katholisch sein in der Welt von heute. Das Ringen um eine christliche Identität.“

Wörtlich sagte der Bischof: „Die Auffassung, Glaubenswahrheit sei über Jahrhunderte von den Realitäten unberührt überliefert worden, mag ein theologisches Konstrukt sein. Sie wird aber der Realität der Dogmenentwicklung und der Lebendigkeit kirchlichen Lebens nicht gerecht. Nicht nur der einzelne Glaubende, auch die Kirche hat im und um den Glauben gerungen, indem sie sich immer wieder den Wirklichkeiten und der Kultur der ihr anvertrauten Menschen ausgesetzt hat. Dabei hat sie ja nicht einfach ewig gültige theoretische Lehrsätze wiederholt, sondern sie hat selbst von ihren Adressaten gelernt, das Evangelium immer neu zu verstehen.“

Und weiter: „Wenn wir um eine Verheutigung des Glaubens bemüht sind, wird es nicht ohne ein Ringen im und um den Glauben gehen, der durch einen notwendigen und gegebenenfalls anstrengenden Transformationsprozess gehen muss. Das betrifft sowohl den Glauben des Einzelnen, als auch den Glauben der Kirche, beides ist ja nicht voneinander zu trennen. Wir stehen derzeit wohl mitten in vielen solcher Prozesse. Dies löst selbstverständlich eine Verunsicherung aus, die aber gewollt ist. Die Kunst besteht darin, sich neu konstituieren zu lassen, ohne die Kontur zu verlieren, und Identitätsprofile zu entfalten, die das Alte neu aufstrahlen lassen und verstehen helfen.“

Dass die Kirche heute nicht mehr in gleicher Weise wie früher der Gesellschaft helfe, sich positiv zu transformieren, also an gesellschaftlicher Relevanz verliere, zeige, „dass die Bipolarität zwischen Kirche und Gesellschaft gestört ist“. Kirche verändere sich mehr durch die Auseinandersetzung mit der heutigen Welt, als dass sich die Welt von der Kirche inspirieren ließe. Kohlgraf sagte weiter; „Das darf weder zur Folge haben, als Kirche rein weltlich zu werden, noch sich dem Prozess der Transformation zu entziehen. Beide Versuchungen gab und gibt es immer wieder. Wenn Evangelisierung jedoch den Anspruch beinhaltet, Kultur evangeliumsgemäß zu prägen, kann der Bedeutungsverlust der christlichen Botschaft, das weitere Auseinanderklaffen von Evangelium und Kultur, von dem Papst Paul VI. in dem Apostolischen Schreiben „Evangelii Nuntiandi“ spricht, nicht einfach als Fatum hingenommen werden.“

Im Anschluss an die Rede stellte sich Bischof Kohlgraf auf dem Podium den Fragen von Jürgen Erbacher, Leiter der ZDF-Redaktion „Kirche und Leben katholisch“. Eine halbe Stunde lang hatten anschließend die Besucher des Abends die Möglichkeit, Fragen an Kohlgraf zu stellen. Der Abend mit dem Mainzer Bischof war die elfte Auflage der Stresemann-Rede.

Die Stresemann-Gesellschaft

Die Stresemann-Gesellschaft wurde 1955 in Mainz gegründet und hat ihren Sitz in Mainz. Ihre Ziele sind, das Andenken an Reichskanzler, Reichsaußenminister und Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann (1878-1929) zu pflegen und das Verständnis für Außen- und Europapolitik in Deutschland zu fördern. Als staatsbürgerliches Forum fördert die Stresemann-Gesellschaft die Verständigung über nationale Interessen und internationale Integration, unter anderem mit verschiedenen Veranstaltungen und Projekten im Dialog von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Die Stresemann-Rede ist der jährliche, öffentliche Vortrag der Stresemann-Gesellschaft. Präsidenten der Stresemann-Gesellschaft sind Professor Dr. Andreas Rödder und Dr. Thomas Christ.