Projektreise in die Ost-Ukraine

Bei der Caritas in Kharkiv: Eine Gruppe Frauen arbeitet mit Kindern und Jugendlichen mit Down-Syndrom. Sie ziehen Sprossen verschiedener Gemüsesorten.  (c) Caritas Kharkiv
Bei der Caritas in Kharkiv: Eine Gruppe Frauen arbeitet mit Kindern und Jugendlichen mit Down-Syndrom. Sie ziehen Sprossen verschiedener Gemüsesorten. 
Datum:
Di. 12. Mai 2020
Von:
Alois Bauer

In Europa herrscht Krieg. In der Ostukraine. Die Ukraine steht im Mittelpunkt der Pfingstaktion von Renovabis 2020. Eine Delegation aus den Bistümern Fulda, Hildesheim, Limburg, Mainz, Trier und Speyer war im November 2019 in der Konfliktregion.

Die Gruppe besuchte auch den Osten des Landes, wo seit 2014 ein militärischer Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ausgetragen wird. Alois Bauer, Leiter der Geschäftsstelle Weltkirche des Bistums Mainz, beschreibt seine Eindrücke:

 

Kharkiw im Osten der Ukraine ist mit  1,5 Millionen Bewohnern die zweitgrößte Stadt des Landes. Wir besuchen das Caritaszentrum der griechisch katholischen Eparchie – neben dem Parkplatz eines Supermarkts steht ein schlichtes mehrstöckiges Gebäude. Die erste Etage hat die Caritas für Ihre Projektteams sowie für eine Kindergartengruppe und die „Garderobe der Solidarität“ gemietet: eine Kleiderkammer, in der bedürftige Menschen und Familien Kleider erhalten können, die Menschen aus der Stadt beständig spenden. Und bedürftig sind hier sehr viele: 200.000 „Displaced Persons“ (DPs), also Vertriebene und Geflüchtete aus der Ostukraine, wo seit 2014 Krieg herrscht.In vielen Familien gibt es Traumatisierte und Verwundete, viele Männer sind gestorben in der Armee oder in den Freiwilligen-Einheiten an der Front. Nahrungsmittel sind sehr teuer, die Mieten für Wohnungen sind stark gestiegen. Die Caritas macht keinen Unterschied zwischen geflüchteten Familien  oder jenen Einheimischen, für die das Leben in der Stadt schwieriger geworden ist. Jede Hilfe wird benötigt – und die „Garderobe der Solidarität“ zeigt, dass viele Menschen in der Stadt bereit sind zu helfen.

Eine Gruppe Frauen arbeitet mit Kindern und Jugendlichen mit Down-Syndrom. Sie ziehen Sprossen verschiedener Gemüsesorten  - die Kinder gießen regelmäßig die Pflänzchen und sehen das Ergebnis.

Gesunde Lebensmittel selbst herstellen

Aus den Pflanzen fertigen sie Smoothies, Reibekuchen und Dips mit Sprossen u.a. – Die Kinder erlernen Fertigkeiten und können mit ihren Familien gesunde Lebensmittel selbst herstellen. Die Gruppe ist inzwischen selbstständig, hat ein Kochbuch veröffentlicht und hegt die Hoffnung, Smoothies und Snacks frei verkaufen zu können. Das Caritas-Zentrum stellt dafür die Infrastruktur bereit. „Samenkörner der Hoffung“… Die Caritas versucht, mit sozialen Projekten auch Geld zu erwirtschaften, um ihre eigene Arbeit auf solide Basis zu stellen, da sie vom Staat finanziell nicht gefördert wird.

Wir besuchen in der Kleinstadt Isjum (48.000 Einwohner) in einer Trabantensiedlung ein weiteres Caritas-Zentrum: eine Wohnung im Erdgeschoss eines Wohnblocks. Eine einzige hauptamtliche Mitarbeiterin organisiert Aktionen mit Jugendlichen wie Müllsammlung, betreut eine Kleiderkammer und organisiert Frauentreffen.

40 km entfernt von der Frontlinie liegt die Stadt Kramatorsk (160.000 Einwohner). 2014 war sie von Separatistengruppen besetzt und wurde von Freiwilligen-Verbänden wieder zurück erobert. An manchen Fassaden sind noch Einschusslöcher zu sehen.

Wir werden begleitet von Pfr. Vasyl Ivasjuk, Priester der griechisch-katholischen Kirche, hat mehrere Aufgaben: Caritas-Direktor in Kramastorsk, Pfarrer in sechs Pfarreien und Seelsorger beim Militär in der Pufferzone, die beiderseits der Frontlinie jeweils 15 km breit ist.

Die (griechisch- wie römisch-)katholische Kirche hat in dieser Region aus historischen Gründen nur wenige Mitglieder, aber auch die Orthodoxe Kirche leidet an Auszehrung. Umso glaubwürdiger wirkt die Caritas-Arbeit.

Das Zentrum in Kramastorsk arbeitet mit etwa 70 Haupt- und über 130 Ehrenamtliche sehr vielfältig: es bietet Kinderbetreuung, Kleiderkammer, psychologische Betreuung für die DPs, aber auch eine Holzwerkstatt, in der Kinder wie Erwachsene kreativ sein und sich ausprobieren können.  Alle Programme sind jedoch auf maximal 3 Jahre begrenzt, da sie über Auslandshilfen (etwa Caritas Österreich bzw. Dänemark) finanziert werden müssen. So entsteht der Druck,  selbst Einkommen schaffende Maßnahmen zu entwickeln. Der Caritas-Direktor hat einige Ideen, die er vorantreibt: Weinbergschnecken-Zucht, Kerzen-Produktion oder Öko-Tourismus.

Wir fahren weiter in die Pufferzone. Auf den ersten Blick wirkt alles recht „normal“, allerdings sehen wir immer wieder zerschossene Fenster, passieren Checkpoints und sehen einige Militärkonvois auf den Straßen. In diesen Tagen wurde ein gegenseitiges Entflechtungsabkommen umgesetzt. Zahlreiche Fördertürme von Kohlengruben sind zu sehen – die Räder stehen. Es ist eine recht verlassene Gegend.

In der Mittelschule von Verkhnokamianske (1.000 Einwohner) im Bezirk Artemivsk / Bakhmut in der Pufferzone werden wir feierlich empfangen mit Lied und Gedicht, die Kinder sind feierlich gekleidet, wir erhalten einen selbstgemachten „Orden“. Wir dürfen teilnehmen an einer Unterrichtseinheit mit einer Psychologin  der Caritas Kramatorsk. Sie arbeitet in etlichen Schulen in der Pufferzone, da die Kinder hier vielfach traumatisiert sind durch die Ereignisse der letzten Jahre. So vermittelt sie spielerisch  Techniken zum Stress-Abbau – oft gab es nächtliche Schüsse, Explosionen durch Minen etc. - : Malen zu Musik, Gespräch über Emotionen, Rollenspiele. Das soll helfen, mit den Erfahrungen bewusst umzugehen und nicht in Gewalttätigkeit oder Depression umschlagen zu lassen.

Wir fragen die Jugendlichen und das Lehrpersonal nach ihren Wünschen – immer wieder sprechen sie von der Hoffnung, dass Konflikt wirklich endet, dass sie aus der „Sackgasse“ herauskommen, die hier in der Pufferzone konkret wird: nach wenigen Kilometern kommt die Grenze, der Kontakt zu Bekannten/ Verwandten „drüben“ ist sehr spärlich, es fehlen Arbeitsplätze, weshalb viele Menschen abwandern.

Die Caritas-Arbeit in der Ostukraine ist vielfältig, sehr konkret, orientiert an den Bedürfnissen der Einheimischen wie der Binnenflüchtlinge. Es sind oft kleinste Initiativen, die sich mit Kreativität entwickeln lassen, sie können Samenkörner und Hoffnungszeichen sein für den noch langen Weg zu einer Aussöhnung.

RENOVABIS fördert diese Arbeit sehr mit seiner Expertise und finanziellen Hilfe.

 

Kramatorsk / Fahrt in die Pufferzone

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Caritaszentrum in Kharkiv

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Soziokulturelles-Zentrum in Isjum

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